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Full Metal Jacket (1987) und die Rolle der Medien im Vietnamkrieg

Full Metal Jacket – ein Kriegsreporterfilm? Protagonist Private Joker arbeitet immerhin kurzzeitig für die US-Militärzeitung Stars and Stripes.

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Full Metal Jacket – ein Kriegsreporterfilm? Protagonist Private Joker arbeitet immerhin kurzzeitig für die US-Militärzeitung Stars and Stripes.

Jokers (Matthew Modine) Profession ist primär ein erzählerischer Schachzug. Nebenbei ist Stanley Kubricks berühmt-berüchtigter Anti-Kriegsfilm bei der Kolportage einer vielfach überlieferten Legende behilflich: Die Legende von den heldenhaften US-Medien, die den Vietnamkrieg mit ihrer kritischen Berichterstattung entscheidend beeinflusst, ja letztlich sogar das Ende der Intervention herbeigeführt haben. Was dran ist an dieser Story? Ein Blick auf die Rolle der Medien im Vietnamkrieg.

Text und Fotos: Patrick Torma. Szenenbilder: Warner.

Kubricks Full Metal Jacket ist ganz sicher nicht der erste Film, der in den Sinn kommt, wenn man an die großen Klassiker des Krisenkinos denkt. Das liegt wohl vor allem daran, dass vielen Menschen die erste Hälfte des Films in Erinnerung geblieben ist. Die Rekrutenausbildung auf Parris Island unter dem Kommando des vulgären Drill Insctructors Gunnery Sergeant Hartman (R. Lee Emery) ist fester Bestandteil der Popkultur. Die wahnwitzigen wie zitierfähigen Schimpftiraden und der brutale Schlussakkord übertönen den zweiten, episodenhaft veranlagten Teil, der von Jokers Kriegserlebnissen in Vietnam erzählt.

Jokers Funktion bei der Army ist kein zentraler Aspekt dieser Erzählung. Inhaltlich wird sein Schaffen als Kriegsberichterstatter kaum verhandelt. Kubricks Antikriegsfilm übergeht klassische Fragen zum Metier, wie sie Beiträge wie Under Fire, Ein Jahr in der Hölle oder Blood Diamond – ganz genretypisch – aufwerfen. Full Metal Jacket ist kein Film über das Wesen des Krisenreporters. Full Metal Jacket ist ein Film über die wahre Natur des Menschen.

Obacht auf Wertsachen. Kriegsfotograf Rafterman (Kevyn Major Howard) wird gleich seine Kamera vermissen.
Obacht auf Wertsachen. Kriegsfotograf Rafterman (Kevyn Major Howard) wird gleich seine Kamera vermissen.

Journalist-Werdung als dramaturgischer Kniff

Jokers Journalist-Werdung ist ein dramaturgischer Kniff. Indem das Buch seine Hauptfigur zur neutralen Instanz erhebt, wirkt ihr moralischer Verfall im Schlussdrittel umso stärker nach. Gleichzeitig steckt in diesem Niedergang eine universelle Symbolik. „Die Feder ist stärker als das Schwert“, besagt eine bekannte Weisheit. Full Metal Jacket verneint die Gültigkeit dieses Aphorismus, indem er den Schreiberling zur Waffe greifen lässt. Gewalt ist keine Lösung. Und doch kommen wir Menschen immer wieder auf diese Form der Problembewältigung zurück.

Bleibt die Zwischenfrage, inwiefern Joker überhaupt in der Lage sein kann, die Rolle eines journalistischen Objektivierers im pressefreiheitlichen Sinne auszufüllen. Schließlich hat er auf Parris Island eine regelrechte Gehirnwäsche erfahren. Die Ausbilder haben ihren Rekruten ein Viet Minh-verachtendes Mindset eingetrichtert. Wer nicht in der Lage ist, seinen potenziellen Feind zu erschießen, der wird selbst abgeknallt, lautet der deterministische Leitsatz der militärischen Aufzucht. Search and Destroy. Alles für den body count, alles für den Klub.

Born to Kill auf dem Helm, Peace-Zeichen am Revers. "Ich wollte damit den menschlichen Dualismus ausdrücken", sagt Private Joker (Matthew Modine)
Born to Kill auf dem Helm, Peace-Zeichen am Revers. “Ich wollte damit den menschlichen Dualismus ausdrücken”, sagt Private Joker (Matthew Modine).

Born to Kill und Peace Button – der Dualismus wie bei Jung

Umso erstaunlicher, dass Joker die Umerziehung im Boot Camp bei seiner Ankunft in Vietnam abgeschüttelt zu haben scheint. James T. Davis, so sein richtiger Name, ist wieder der vorwitzige Kerl, der er vor dem Drill war. Born to Kill steht auf seinem Helm geschrieben, aber das ist ironisch gebrochen. Das zu Beginn des Films rigoros rasierte Haupthaar sprießt wieder, am Revers trägt er einen Peace-Button. Von einem genervten Colonel auf diesen Widerspruch hingewiesen, entgegnet Joker: „Ich wollte damit den menschlichen Dualismus ausdrücken – wie bei Jung.“ Eine zusätzliche Provokation. Joker ist sich dessen bewusst, dass man mit Verstandesmäßigkeit keine Herzen in der Army erobert. Schon gar nicht, seitdem die künftige geistige Elite des Landes an der Heimatfront gegen den Einsatz tapferer Soldaten in Südostasien aufbegehrt. Die Universitäten sind die Brutzellen der Antikriegsbewegung.

Doch die Konditionierung im Boot Camp zeigt erste Wirkung. Je länger Querdenker Joker auf echte Fronterlebnisse warten muss, desto rastloser wird er. Während die Kameraden um ihn herum echte Traumata erfahren, muss er sich mit Hörensagen begnügen. Seinem Vorgesetzten kommt die erfahrungsbedingte Ahnungslosigkeit Jokers gelegen: Das Letzte, was der Chef der örtlichen Stars und Stripes-Einheit in seinem Blatt lesen möchte, sind ernüchternde Wahrheiten von der Front. Sein Auftrag besteht darin, die Truppenmoral mit Verlautbarungen über militärische Fortschritte und exponentiell steigende Verlustzahlen in den Reihen der Viet Minh zu stärken. Er versteht seine Arbeit als Kontrapunkt zur betont kritischen Berichterstattung der freien Medien – die pingelige US-Presse habe die Amerikaner überhaupt erst in dieses Schlamassel hinein manövriert, echauffiert sich der Redaktionsleiter. Die beliebte Heldengeschichte – oder Dolchstoßlegende, je nach Sichtweise – von den wirkungsmächtigen Medien im Vietnamkrieg ist damit auch in Full Metal Jacket etabliert.

Joker dürstet es nach Anerkennung: Je länger er auf Feindkontakt wartet, desto weniger verbunden fühlt er sich mit seinen Kameraden (Hier mit Private Cowboy, gespielt von Arliss Howard).
Joker dürstet es nach Anerkennung: Je länger er auf Feindkontakt wartet, desto weniger verbunden fühlt er sich mit seinen Kameraden (Hier mit Private Cowboy, gespielt von Arliss Howard).

Wenn der Two Thousand Yard
Stare zum Statussymbol wird…

Was von dieser Zuschreibung aus historischer Sicht zu halten ist, schauen wir uns gleich noch genauer an. Zuvor driftet Joker seinem moralischen Nullpunkt entgegen. Die nordvietnamesische Armee bläst – für das US-Militär unerwartet wie unvorstellbar – zum Neujahrsfest Tet, dem höchsten Feiertag Vietnams, zur Offensive und attackiert in den frühen Morgenstunden des 30. Januars 1968 rund 100 Stellen im Land. Ziele sind unter anderem die großen Städte in Süd- und Zentralvietnam und etliche Einrichtungen der südvietnamesischen und US-amerikanischen Streitkräfte. Tet versetzt die US-Öffentlichkeit in Schockstarre – bislang war sie davon ausgegangen, dass „ihre“ Truppen den Sieg in Südostasien fest vor Augen haben. Stattdessen wird sie nun mit Bildern von amerikanischen Soldaten auf dem Rückzug konfrontiert.

Auch für Joker kommt Tet einer Zäsur gleich: Er wird von seinem Vorgesetzten an die Front schickt. Parallel spürt der Berichterstatter eine zunehmende Distanz zu seinen Kameraden, die ihm seinen Mangel an Kampferfahrung vorhalten. Der Two Thousand Yard Stare, der ausdruckslose Blick in den Augen traumatisierter Soldaten, wird zum Statussymbol. Joker dürstet es nach Anerkennung und Action.

Wofür wir kämpfen: Maschinengewehr-Schütze Animal Mother (Adam Baldwin) im Front-Interview.
Wofür wir kämpfen: Maschinengewehr-Schütze Animal Mother (Adam Baldwin) im Front-Interview.

Der Berichterstatter in Full
Metal Jacket
wird zum Killer

Durch den Drill auf Parris Island zur Kampfmaschine abgerichtet, hat Jokers pazifistische Haltung nicht mehr lange Bestand. Semiotisch veranschaulicht wird die Aufgabe durch das Verschwinden seines Frieden-Buttons: In der finalen Szene rückt der Anstecker nach und nach in den Hintergrund, bis er komplett aus dem Bildausschnitt rutscht. Stattdessen ist nur noch der Kill-Schriftzug auf Jokers Helm zu sehen. Der von Joker beschworene Dualismus ist ein für alle Mal aus dem Gleichgewicht, die Fratze im Menschen kommt zum Vorschein.

Der Berichterstatter wird in Full Metal Jacket wird zum Killer. Doch haben die Berichterstatter den Vietnamkrieg gekillt? Diese Legende hält sich hartnäckig. Noch während des Vietnamkrieges aufgeschrieben, wird sie heute insbesondere von Medienschaffenden selbst kultiviert und wie ein alter Verdienstorden an den Sonntagsanzug gesteckt, wenn es darum geht, die eigene Leistungsfähigkeit zu beschwören. In reaktionären Kreisen war und ist die Selbstüberhöhung der Medien hingegen ein willkommener Anlass, eine Dolchstoßlegende zusammenzureimen. Indem die Medien daheim die Mär von mordenden, vergewaltigenden und brandschatzenden Soldaten verbreiteten, hätten sie die Moral der Truppen am anderen Ende der Welt untergraben und zur militärischen Niederlage beigetragen, so die rechte Folklore.

Was folgt, stammt aus dem privaten Fotoalbum. Hier die Front des Kriegsopfermuseums in Ho Chi Minh City (ehemals Saigon). Früher trug das Museum den vielsagenden Namen “Ausstellungshaus für Kriegsverbrechen”.

Das Interesse wächst:
Der erste living room war

Zugegeben: Es kommt nicht von ungefähr, dass der Kriegsberichterstattung während des Vietnamkrieges ein derart großer Einfluss attestiert wird. Der Vietnamkrieg ist der erste living room war, der durch das Fernsehen direkt in die Wohnzimmer der Amerikaner flimmert. Zwar wurde bereits über den Koreakrieg (1950 bis 1953) im TV berichtet. Doch noch konzentriert sich das Fernsehen zu diesem Zeitpunkt, nicht zuletzt aus distributionstechnischen Gründen, auf das nationale Geschehen. Hinzu kommt: Zur Zeit des Koreakrieges besitzen nur 10 Millionen US-Haushalte ein TV-Gerät, der Großteil der Bürgerinnen und Bürger verfolgt den Verlauf vor dem Radio. Auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges sind es bereits 100 Millionen Haushalte, die über einen TV-Anschluss verfügen – 60 Prozent der Amerikaner beziehen ihre Informationen inzwischen aus dem Fernsehen.

Begünstigt wird der living room war durch den infrastrukturellen sowie technischen Fortschritt. Ab 1962 bauen Redaktionen und Agenturen ihre Netzwerke in Südostasien aus. Die Weiterentwicklung des Telex-Systems beschleunigt das Printwesen und sorgt dafür, dass Berichte in alle Welt abgesetzt werden können. Handlichere und leichtere Kameras erleichtern die Bewegtbild-Produktion. Einen Meilenstein in der Geschichte des Fernsehens markiert der Telstar 2. 1962 schießen die Vereinigten Staaten ihren ersten TV-Satelliten in den Orbit. Beim Start durch einen tags zuvor durchgeführten außeratmosphärischen Atombombentest beschädigt, ist der erste Telstar eine technische Eintagsfliege (wenngleich er als Weltraumschrott Durchhaltevermögen beweist und bis heute durchs All schwebt).

Erst der zweite Anlauf am 7. Mai 1963 ist ein Erfolg: Die Amerikaner vor den heimischen Fernsehgeräten werden die olympischen Spiele 1964 in Tokio und andere Weltereignisse live verfolgen können. Bislang waren Bilder aus Übersee nur zeitversetzt empfangbar. Aus dem ganz einfachen Grund: Bis dahin musste das Filmmaterial erst auf dem Transportweg in die Heimat verfrachtet werden.

Szene aus dem Kriegsopfermuseum. Wer im Vietnamkrieg der Böse war, ist unschwer zu erkennen. Wobei die Kriegstreiberei und die Kriegsverbrechen der USA ja nicht zu leugnen sind. Wer aber deutsche museale Neutralität gewohnt ist...
Szene aus dem Kriegsopfermuseum. Wer im Vietnamkrieg der Böse war, ist unschwer zu erkennen. Wobei die Kriegstreiberei und die Kriegsverbrechen der USA ja nicht zu leugnen sind. Wer aber deutsche museale Neutralität gewohnt ist…

Das Goldene Jahrzehnt des investigativen Journalismus

Mit dem technischen Fortschritt wachsen die Reichweite und die Aufmerksamkeit, der Nährboden für die viel beachteten Scoops der Folgejahre. Die 1970er-Jahre gelten als das goldene Jahrzehnt des investigativen Journalismus. 1971 veröffentlicht die Washington Post die Pentagon Papers (siehe auch: Die Verlegerin), aus denen hervorgeht, dass sämtliche Regierungen seit Harry S. Truman bis Lyndon B. Johnson in Bezug auf die Verstrickungen in Südostasien gelogen haben. 1974 holen die Reporter Bob Woodward und Carl Bernstein die Watergate-Affäre in die Öffentlichkeit (siehe: Die Unbestechlichen, The Secret Man) und begründen so einen weiteren journalistischen Mythos.

Der Vietnam-Mythos wird durch berühmte journalistische Sternstunden der Kriegsberichterstattung begründet und zu einer Helden-Story verdichtet. Zu den Ikonen dieser Geschichte gehören Nick Ùts Foto, das vor einem Napalm-Angriff fliehende Kinder zeigt (1972), und die Enthüllung des Massakers von My Lai, das im März 1968 von amerikanischen Soldaten auf Geheiß des Leutnants William L. Calley an vietnamesischen Zivilisten verübt wird, allerdings erst 1971 durch die Recherchen des freien Journalisten Seymour Hersh an die Öffentlichkeit gelangt. Beide Veröffentlichungen halten den Amerikanern vor Augen, dass die Kategorien von Gut und Böse auf den Vietnamkrieg nicht anwendbar sind. Sie beeinflussen die öffentliche Meinung. Dass das militärische Engagement in Vietnam eine Sackgasse sein könnte, schwante den meisten Amerikanern bereits. Nun aber besitzen sie die Gewissheit, dass die Intervention auch moralisch höchst fragwürdig geführt wird.

Kriegsgerät im Garten des  Ho Chi Minh City Museums. Davor: Der Autor dieses Blogs.
Kriegsgerät im Garten des Ho Chi Minh City Museums. Davor: Der Autor dieses Blogs.

Die Tet-Offensive 1968
entlarvt Johnsons Lügen

Es sind mediale Mahnmale, die das amerikanische Trauma bebildern. Auf die Wahrnehmung des Vietnamkriegs als außenpolitisches Versagen üben die Enthüllungen ab 1970 allerdings schon keinen allzu großen Einfluss mehr aus. Eine größere Bedeutung kommt Tet 1968 zu: Aus nordvietnamesischer Sicht ein militärisches Debakel mit hohen Verlustzahlen, ist die Offensive auf propagandistischer Ebene ein Gewinn für die NLF. Der Krieg wird erstmals in die Städte getragen und so für die dort stationierten Journalisten im „großen Stil“ erfahrbar. Die Bilder von zerstörten Hubschraubern und der angegriffenen Botschaft in der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon entlarven Johnsons Reden vom bevorstehenden Sieg in Vietnam als haltlose Parolen.

Die Berichterstattung schlägt an diesem Punkt belegbar vermehrt kritische Töne an (man denke den Appell des berühmten Nachrichtensprechers Walter Cronkite, siehe Video am Ende des Absatzes). Präsident Johnson und Teile seiner Administration werfen den Journalisten vor, sie würden viel zu einseitig über die vermeintlichen Erfolge der NLF berichten und die Öffentlichkeit mit ihren allzu negativen Mitteilungen über die Tet-Offensive demoralisieren. In der Tat fallen einige Berichte sehr dramatisch und pessimistisch aus. Die Möglichkeit der Echtzeitberichterstattung bietet nicht nur Vorteile; sie erzeugt auch Druck. Viele Korrespondenten sehen sich zum allerersten Mal mit echtem Kriegsgeschehen konfrontiert, reagieren panisch und liefern überhastet ab. So oder so: Zum ersten Mal dringen die schlechten Nachrichten aus Vietnam auch zu denen durch, die bislang die Augen verschlossen haben.

Das Jahr 1968 als Wendepunkt und journalistische Schlaglichter

Für die Friedensbewegung, die im Jahre 1968 auf ihren Höhepunkt zusteuert (und in die 1968er-Bewegung mündet), sind die Berichte der endgültige Beweis, dass etwas mächtig schiefläuft in Südostasien. Wenige Wochen zuvor verkündete Johnson noch, der Feind werde Schlacht um Schlacht zurückgedrängt. Für ihn markiert Tet tatsächlich so etwas wie einen Wendepunkt: Der US-Präsident lehnt nach der Offensive Forderungen nach weiteren Truppenentsendungen ab und schließt eine Folgekandidatur aus.

Ob der Tet-Schock auch einen Umschwung in der öffentlichen Meinung bewirkte, ist umstritten. Einig sind sich die Historiker, dass das Ereignis den sich innerhalb der Bevölkerung bildenden Konsens über den Abzug der US-Truppen verfestigte. Eine Entwicklung, die man hierbei aber im Hinterkopf behalten sollte: 1968 ist das Jahr, in dem die US-Army die höchsten Verluste beklagt, 16.500 Amerikaner kehren in Särgen heim. Zum Vergleich: In Jahren zuvor – von 1961 bis Ende 1967 – wurden insgesamt 20.000 tote US-Soldaten betrauert. Ein Aderlass, der zunehmend Spuren in der Gesellschaft hinterlässt.

Eine weitere Beobachtung, die die Helden-Story entzaubert: Die journalistischen Schlaglichter wie die eben erwähnte Enthüllung von My Lai, die Veröffentlichung der Pentagon Papers oder auch Nick Ùts Fotografie strahlen in den Folgejahren besonders hell (alle drei Storys werden mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet), sie werden allerdings nicht zur Regel. Im Gegenteil: Jetzt, wo kein Sieg mehr zu erwarten ist, versiegt das allgemeine Interesse der Medien. Die Fraktion der Hurrapatrioten verstummt. Einige Medien gehen eine stillschweigende Abmachung ein. Sie verzichten darauf, die amerikanische Demütigung in die Haushalte zu übertragen. Ein ganzer Berufsstand ist desillusioniert.

Weitere Hinterlassenschaften des Krieges im Museumsgarten. Wenige Straßen weiter steht der geschichtsträchtige Wiedervereinigungspalast.
Weitere Hinterlassenschaften des Krieges im Museumsgarten. Wenige Straßen weiter steht der geschichtsträchtige Wiedervereinigungspalast.

Abenteuer und Hurrapatriotismus als Antrieb der Berichterstattung

Viele Journalisten reisen bei Kriegsausbruch nicht als Kritiker ins Land, sie sind vielmehr auf Adrenalin und Abenteuer, Ruhm und Meriten aus. Diejenigen, die die Containment- bzw. Roll back-Politik ihrer Regierung befürworten – das sind in den ersten Jahren der Intervention nicht wenige Reporter –, kommt gar nicht in den Sinn, die US-amerikanische Einmischung zu hinterfragen. Außerdem sind sie von der konventionellen Kriegsberichterstattung mit ihrer heroischen Tonalität geprägt. Der unausgesprochene Kodex sieht vor, keine allzu verstörenden Bildern zu zeigen. Auch sind die Reporter geneigt, schützenswerte Informationen für sich zu behalten. Teile der Presse wissen von den CIA-Aktionen in Nordvietnam, etwa der Operation Phoenix (ab 1967), halten aber dicht.

Die Johnson-Administration kommt den Journalisten entgegen. Weil sie sich dessen bewusst ist, dass allzu strenge Zensurbemühungen nicht gerade die Kooperationsbereitschaft unter den Journalisten fördert, lockert sie die strenge Verlautbarungs- und Akkreditierungspolitik der Vorgängerregierung unter Präsident John F. Kennedy. Man vertraut darauf, dass sich Journalisten – wie schon im Zweiten Weltkrieg – in Selbstzensur üben. Im Gegenzug erfahren Reporter Unterstützung durch offizielle Stellen, wenn sie von der Front berichten wollen. Das Kalkül: Journalisten, die sich gemeinsam mit den Soldaten durch den vietnamesischen Dschungel schlagen, fühlen sich den Objekten ihrer Berichterstattung näher, werden selbst zu Kriegsteilnehmern oder gar Kameraden. Wer sich verbrüdert, gibt die neutrale Distanz auf und ist im Zweifel bereit, Informationen, die möglicherweise ein negatives Licht auf die Gemeinschaft werfen, unter den Tisch fallen zu lassen.

Lesetipp: Mehr zu der Geschichte der Pressepolitik der Vereinigten Staaten in Kriegszeiten im Beitrag zu Kim Ba(r)ker Erfahrungsbericht aus der „Kabubble“ des Afghanistan-Krieges Whisky Tango Foxtrot.

Fiese Falle: Auf dem Museumsgelände der Cu Chi-Tunnel, etwas außerhalb von Ho Chi Minh City gelegen, kann man dieser makaberen Demonstration beiwohnen.
Fiese Falle: Auf dem Museumsgelände der Cu Chi-Tunnel, etwas außerhalb von Ho Chi Minh City gelegen, kann man dieser makaberen Demonstration beiwohnen.

Ein Anflug von Embedded Journalism unter Johnson

Es gibt „Einzelkämpfer“, die auf dieses Angebot einsteigen und den Soldaten folgend durch den Morast robben, aus diesen Ansätzen eines Embedded Journalism erwächst aber keine Massenbewegung. Ein Grund ist praktischer Natur: Kamera-Equipment ist zwar leichter geworden, Feldreportagen stellen aber immer noch eine besondere Herausforderung dar. An der Vielzahl kleinerer Operationen im unwegsamen Gelände können größere Film-Teams ohnehin nicht teilnehmen. Doch auch ohne die kollektive Verbrüderung mit dem Militär halten sich die meisten Korrespondenten an die Spielregeln der Regierung, um die eigene Akkreditierung nicht zu gefährden. Johnson hat zwar die Zügel gelockert, ohne offizielle Erlaubnis geht aber häufig überhaupt nichts. Wie wenig es die Journalisten darauf anlegten, über die Stränge zu schlagen, belegen folgende Zahlen: 5.000 Reportern, die während des Krieges in Vietnam unterwegs sind, stehen ein Dutzend eingezogener Akkreditierung gegenüber.

Das alles soll nicht bedeuten, dass Lyndon B. Johnson mit Blick auf die Presse ruhig schläft. Der Präsident trifft sich immer wieder mit hochrangigen Reportern und Verlegern, um seine Kritik an unliebsamen Berichten zum Ausdruck zu bringen. In den Jahren 1965 bis 1968 erscheint eine Reihe von Artikeln, die zwar nicht den Krieg als solchen, aber die taktische Ausrichtung infrage stellen. Bei aller Liebe fürs Reglement, es gelingt Washington nicht, die Berichterstattung zu kontrollieren. Wie soll das auch möglich sein? Die Vielzahl der Journalisten ist kaum zu überschauen. Hinzu kommt: Die Administration befeuert den Kontrollverlust durch ihre sparsame Informationspolitik selbst. Weil Journalisten nur karge Mitteilungen von den Militärs vor Ort erhalten, schießen sie in schöner Regelmäßigkeit ins Blaue.

Offiziershütte auf dem Cu Chi-Gelände.
Offiziershütte auf dem Cu Chi-Gelände.

Reporter an der Front sind für
die Momentaufnahmen zuständig

Die Lage in Vietnam ist zu diffus, zu unübersichtlich, als dass sie von den Reportern an der Front erfasst werden könnte. Der Alltag und die journalistische Routine lassen wenig Raum für übergreifende Recherchen. Prominente Enthüllungsgeschichten wie die von My Lai oder den Pentagon Papers werden selten von Auslandskorrespondenten geschrieben, sondern meist in den Heimatredaktionen recherchiert – und durch Zeugenaussagen und Informationsflüsse aus Politik- und Militärkreisen angeschoben.

Es sind eher die Momentaufnahmen, die die Reporter in Vietnam für die Ewigkeit festhalten. 11. Juli 1963 zündet sich ein Mönch aus Protest gegen die von den Amerikanern unterstützte südvietnamesische Regierung an. Ein früher Schock, der die US-Öffentlichkeit erstmals so richtig erfasst. Die Aufregung ist groß, allerdings ist darunter auch viel Empörung darüber, dass der Fotograf, Malcolm Brown, nicht eingriff. „As a human being I wanted to, as a reporter I coundn’t“, rechtfertigt sich Brown später. 1965 zeigt der US-Sender CBS Bilder von US-Soldaten, die an der Front zivile Strohbehausungen anzünden. Am nächsten Tag erhält CBS-Chef Frank Stanton einen Anruf vom aufgebrachten US-Präsidenten. „Frank, are you trying to fuck me? This is your president and yesterday your boys shat on the American flag!”, wütet Johnson.

Abstieg in den nordvietnamesischen Untergrund. Ein weitläufiges Tunnelsystem sorgte dafür, dass die Viet Minh immer wieder unbemerkt Aktionen auf südvietnamesischen Territorium starten konnten. Der Tunnel, der für die Öffentlichkeit zugänglich ist, ist "touristenkonform" ausgebaut. In Wahrheit waren die Öffnungen viel niedriger und schmaler. Aber auch so ist der Abstieg eng und beklemmend genug.
Abstieg in den nordvietnamesischen Untergrund. Ein weitläufiges Tunnelsystem sorgte dafür, dass die Viet Minh immer wieder unbemerkt Aktionen auf südvietnamesischen Territorium starten konnten. Der Tunnel, der für die Öffentlichkeit zugänglich ist, ist “touristenkonform” ausgebaut. In Wahrheit waren die Öffnungen niedriger und schmaler. Aber auch so ist der Besuch eng und beklemmend genug.

Journalisten bebildern
das amerikanische Trauma

Johnsons Standpauke scheint in den Ohren der CBS-Oberen zu verhallen, denn der Sender wird zum „Wiederholungstäter“: 1966 flimmern Bilder von einem Beinahe-Massaker – US-Soldaten setzen im Dorf Cam Ne Flammenwerfer gegen die Zivilbevölkerung ein – über den Sender, 1967 berichten CBS-Korrespondenten über das Ende einer blutigen Auseinandersetzung, bei der tote Viet Minh per Hubschrauber in einem riesigen Netz abtransportiert werden. Allerdings sind dies drastische Ausnahmen. Bis 1967/68 gehen diese Dokumente in der Hurra-Berichterstattung unter. Lediglich 10 Prozent der Berichterstattung im TV sollen bis dahin überhaupt Kampfhandlungen gezeigt haben. Absolute Zahlen liefert eine andere Untersuchung, die 2.300 TV-Berichte zwischen 1965 und Tet 1968 in Augenschein genommen hat: Demnach hätten nur 76 Beiträge echtes Kampfgeschehen zum Inhalt gehabt.

Der Presse jeglichen Einfluss auf die öffentliche Meinung abzusprechen, wäre eine allzu ignorante Umkehrung der überlieferten Heldengeschichte. Viele der genannten Bilder haben sich nicht ohne Grund in die kollektive Erinnerung eingebrannt. Das berühmte Foto, das die Erschießung eines Anführers der nordvietnamesischen Armee durch den Saigoner Polizeichef zeigt und kurz nach der Tet-Offensive am 1. Februar 1968 entstand, steht exemplarisch für den außer Kontrolle geratenen Gewaltexzess, den die Antikriegsbewegung schon lange anprangert. Diese Zeugnisse des Krieges rütteln jene Teile der Gesellschaft wach, die bislang brav den offiziellen Verlautbarungen ihrer Regierung vertrauten, und verstärken auf dem Höhepunkt der Proteste die Kriegsverdrossenheit.

Weitere makabere Aktivität: Wer mag, darf auf dem Cu Chi-Gelände zur Waffe greifen.
Weitere makabere Aktivität: Wer mag, darf auf dem Cu Chi-Gelände zur Waffe greifen.

Medien im Vietnamkrieg: Einfluss ja, aber mit Einschränkungen

Wer den Einfluss der Medien jedoch im Sinne der Legende überhöht, unterschlägt, dass die US-Presse vor Tet in Summe zu brav, nach der Offensive zu gleichgültig berichtet und die US-Intervention nach dem Höhepunkt der Proteste 1968 noch vier weitere Jahre andauert. Auf Präsident Johnson, von der Entwicklung des Konfliktes zermürbt, folgt Richard Nixon, der das Wüten auf die Nachbarstaaten Kambodscha (siehe auch: The Killing Fields) und Laos (Operation Comeback) ausweitet. Erst 1973 ziehen sich die USA komplett zurück, Nord- und Südvietnam führen den Krieg bis zum Fall Saigons am 30. April 1975 fort. Das Trauma, das die Vereinigten Staaten erleiden, ist auf eine Reihe außenpolitischer und militärischer Fehleinschätzungen zurückzuführen, auf das Unterschätzen eines Gegners, der das für die Amerikaner ungewohnte Terrain und Klima zu seinem Heimvorteil zu nutzen weiß und selbst unter hohen Verlusten und totaler Entbehrung seine Kampfmoral aufrechterhält.

Die US-amerikanischen Truppen hingegen sind auf die Guerilla-Taktik der Viet Minh nur unzureichend vorbereitet, die Verhältnisse vor Ort und die kulturellen Gegebenheiten überfordern das junge Heer. Die Soldaten sind bei ihrem ersten Einsatz in Vietnam durchschnittlich 19 Jahre jung und stammen meist aus einfacheren Verhältnissen. Der Vietnamkrieg ist ein Krieg der Elite, der primär durch Unterprivilegierte ausgefochten werden soll. Innerhalb der einzelnen Verbände herrscht hohe Fluktuation, die einer tiefen Kameradschaft entgegensteht. 20 Prozent der US-amerikanischen Verluste sollen auf friendly fire, also den versehentlichen Beschuss durch eigene Truppen, zurückzuführen sein. Das mit der Demoralisierung der US-Soldaten, das haben die verantwortlichen Anführer schön selbst hinbekommen.

Die Auslöser für das größte amerikanische Trauma des 20. Jahrhunderts sind hausgemacht. Die Medien haben den Vietnam für die (Nach-)Welt dokumentiert – nicht mehr und nicht weniger. Sowohl für die zeitgenössische, vor allem aber auch für die der nachfolgenden Generationen. Wenn man denn so etwas wie eine Legende spinnen möchte, dann eher die vom Vermächtnis der Vietnam-Berichterstattung. Vietnam steht synonym für die unilaterale Hybris einer Supermacht, die aus vermeintlichen noblen Motiven heraus die Welt in ein Schlachthaus verwandelt. Die Erinnerung an dieses Mahnmal wach zu halten, das ist Aufgabe für künftige Reporterinnen und Reporter. Und die Intention hinter Filmen wie Full Metal Jacket.

Literatur zum Thema Medien im Vietnamkrieg, die in diesem Beitrag eingeflossen ist:

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Kubricks Anti-Kriegs-Klassiker ist immer noch eine Wucht. Und die zweite, vom anfänglichen Drill überlagerte Hälfte des Films ebenfalls sehr stark, wie ich beim erneuten Sehen nach Jahren festgestellt habe. Wer den Film nachholen möchte: Über den folgenden Link kommst Du zu Amazon. Du zahlst nicht mehr als sonst, dafür geht eine kleine Provision an journalistenfilme.de

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