Gemeinsam mit dem Journalisten Martin Sixsmith begibt sich die inzwischen fast 70-jährige Philomena Lee auf die Suche nach ihrem verlorenen Sohn.
Gemeinsam mit dem Journalisten Martin Sixsmith begibt sich die inzwischen fast 70-jährige Philomena Lee auf die Suche nach ihrem verlorenen Sohn.
Der Wechsel ins Human Interest-Fach fällt dem zynischen Politexperten Sixsmith anfangs schwer. Doch hinter einem vermeintlichen Einzelschicksal verbirgt sich ein riesiger Kirchenskandal.
Text: Patrick Torma. Bildmaterial: Universum Film.
Ein halbes Jahrhundert lang trägt Philomena Lee (Judi Dench) ein düsteres Geheimnis mit sich: Als irische Unschuld vom Lande lernt sie auf dem Rummel einen jungen Mann kennen, mit dem sie eine Liebesnacht verbringt. Neun Monate später erblickt ihr Sohn Anthony in einem Magdalenenheim das Licht der Welt – dorthin hatte sie ihr gestrenger Vater abgeschoben, von den katholischen Ordensschwestern zu vierjähriger Bußarbeit angehalten. Nur wenige Minuten am Tag ist es der jungen Mutter vergönnt, ihren Spross aufwachsen zu sehen – bis er eines Tages von Fremden abgeholt und nie wieder zurückgebracht wird.
Philomena lebt anschließend ihr Leben, heiratet und bekommt weitere Kinder. Ihren Anthony hat sie in all den Jahren nie vergessen, ohne je ein Wort über ihn zu verlieren. Doch jetzt prasselt der Schmerz auf die inzwischen betagte Dame ein: Der Geburtstag ihres Sohnes jährt sich zum fünfzigsten Mal, die Feiertage und der Sherry machen sie zusätzlich sentimental. Philomena vertraut sich ihrer Tochter an, die wenige Tage später die Bekanntschaft mit dem Journalisten Martin Sixsmith (Steve Coogan) macht. Der ist gerade unrühmlich aus seinem Job als Ministeriumssprecher entlassen worden und will lieber an seinem Buch über russische Geschichte arbeiten. Human Interest, das ist für Politexperten „rührseliges Zeug“ „über schwache, verletzliche Menschen, das von schwachen, verletzlichen Menschen gelesen wird“. Weil er aber feststellen muss, dass sich niemand „für blöde russische Geschichte“ aus der Feder eines gefallenen Spin Doctors interessiert, begibt er sich schließlich doch auf die Suche nach Philomenas verlorenem Sohn.
Schwierige Themen, leichtfüßig verhandelt
Philomena ist ein warmherziger und gleichzeitig aufklärerischer Film. Es geht um Schuld, Sühne und Vergebung, um die repressiven Erziehungsmethoden und den systematischen Kinderhandel in den Magdalenenheimen im Irland der 1950er-Jahre, später um die Reserviertheit der US-Gesellschaft der 1980er gegenüber Homosexuellen und AIDS-Erkrankten. Starker Tobak, und dennoch gelingt es Regisseur Stephen Frears (The Program), diese schwierigen Themen mit einer gewissen Leichtigkeit zu verhandeln – mithilfe eines ungleichen Duos, das er roadmovie-mäßig auf die Reise schickt. Philomena ist eine Frau, die, trotz der bitteren Erfahrungen in ihrem Leben, ihre gutmütige, bisweilen naive Sicht auf die Welt beibehalten hat. Martin Sixsmith hingegen haben die Erfahrungen in einer beruflichen Schlangengrube zum Zyniker werden lassen. Wer in einem Umfeld agiert, in dem die Leute nur auf Fehler anderer lauern, legt Menschsein schnell als menschliche Schwäche aus.
Den Gesetzmäßigkeiten einer solchen Dramedy entsprechend nähern sich die beiden Pole natürlich an. Philomena ist gar nicht so naiv, wie sie es vorgibt, ihre Nachsichtigkeit hat Grenzen, innerhalb ihres christlich-normativen Rahmens, versteht sich. Auf der anderen Seite taut der gefühlskalte Martin Sixsmith auf, der Journalist, der die Recherchen zunächst nur aus Kalkül heraus aufnimmt, kämpft später mit Feuereifer für das Recht seiner Informantin. Damit entspricht er dem Rollentypus des geläuterten Journalisten, wie er häufig in Journalistenfilmen anzutreffen ist: Ein Berichterstatter, der Vorannahmen oder Vorbehalte gegenüber dem Objekt seiner Berichterstattung aufgibt, Distanz abbaut und sich für die Wahrheit, einhergehend bzw. gleichbedeutend mit Gerechtigkeit, einsetzt.
Der Typus des geläuterten Journalisten
Viele Kriegsreporter-Streifen funktionieren auf Grundlage dieses Typus, nicht selten sind es Sensationsreporter (Henry Hacket in Schlagzeilen, Lee Gates in Money Monster oder Max Brackett in Mad City), die einen drastischen Sinneswandel vom Quoten-Saulus zum journalistisch integren Paulus erfahren. Aber auch investigative Journalistenfilme wie Die Unbestechlichen, Spotlight oder The Idealist arbeiten mit diesem Motiv – die Charakterentwicklung geschieht weniger plakativ, die Journalistenfiguren sind hier bereits mit einem ausgeprägten Gespür für Verantwortung ausgestattet, werden sich aber erst im Laufe der Spielzeit der wahren Tragweite ihrer Recherchen sowie ihrer Rolle als Vertreter der vierten Gewalt bewusst.
Insofern ist Philomena ein vorhersehbares Vergnügen, wobei das „Vergnügen“ an dieser Stelle – gerade angesichts der heiklen Themen – keineswegs sarkastisch gemeint ist. Aller Tragik zum Trotz lebt der Film von der Spielfreude seiner Hauptdarsteller, die immer wieder mit ihren Rollen ironisch brechen. In einer Szene etwa observieren Philomenia Lee und Martin Sixsmith einen potenziellen Informanten. „Wir werden ihn überfallen“, kündigt Sixsmith an, „denn das ist es, was fiese Journalisten tun“, nur um anstandslos von der Veranda zu schleichen, nachdem man ihm die Tür vor der Nase zugeknallt hat. Der Journalist wähnt sich am Ende der Recherche – letztendlich ist es Philomena, die – zugegeben, herzliche – Hartnäckigkeit beweist und den beiden Zutritt verschafft.
Die wahre Geschichte der Philomena Lee
Angesichts solcher Szenen lässt es sich fast vergessen, dass der Film auf wahren Begebenheiten beruht. Die Tragikomödie basiert auf dem Buch The Lost Child of Philomena Lee (deutsch: Philomena: Eine Mutter sucht ihren Sohn*) von Martin Sixsmith, der am Silvesterabend 2004 von Philomena Lee erfuhr. Tatsächlich hatte die Karriere des Journalisten seinerzeit einen Schlag erfahren, wenn auch der zeitliche Abstand größer war. Der Ex-BBC-Korrespondent arbeitete 2001 unter Premier Tony Blair als Sprecher im Verkehrsministerium, wo ihn eine Email mit zu Fall brachte: Jo Moore, eine Beraterin des damaligen Verkehrsministers Stephen Bryers, hatte am Tag der Anschläge vom 11. September 2001 eine interne Erklärung mit dem Worten „Heute ist ein guter Tag, um unsere schlechten Nachrichten zu veröffentlichen“ eingeleitet – ein Fauxpas, der auf mehrere Mitarbeiter im Hause abfärbte.
Ebenfalls verbrieft ist die anfängliche Ablehnung des echten Martin Sixsmith gegenüber allzu menschlicher Berichterstattung. Zuvor hatte er sich als Polit- und Auslandskorrespondent einen Namen gemacht. Allerdings habe der Journalist seine zynische Haltung gleich nach dem ersten Treffen mit Philomena Lee abgelegt („It took just one meeting with Philomena to rid me of that cynical attitude“). Außerdem sei er, so der echte Martin Sixsmith, weitaus weniger wütend als seine Film-Adaption – so wie die echte Philomenia Lee im wahren Leben keine schrullige alte Dame sei. Was ihn mit seinem filmischen Alter Ego verbinde, sei jedoch sein Gerechtigkeitssinn in allen Lebenslagen.
Freiheiten und Fakten in Philomena
Natürlich arbeitet Philomena wie die allermeisten Journalistenfilme, die von wahren Scoops erzählen, mit Verdichtungen und dramaturgischen Freiheiten. Im Film treffen Mutter und Journalist beispielsweise auf die mittlerweile demente Heimleiterin, die Philomena Lee einst züchtigte. Martin Sixsmith stellt sie zur Rede, und obwohl die Ordensschwester – teils aus tiefer Überzeugung, teils aus alters- und krankheitsbedingter Renitenz heraus – keine Reue zeigt, erteilt ihr Philomena Lee die Absolution. Diese Konfrontation hat nie stattgefunden. Sixsmith nahm 2004 die Recherchen auf – die damals verantwortliche Leiterin des Magdalenenheims verstarb bereits 1995. Die Schwestern des Ordens kritisierten den Film für diese „irreführende“ Szene.
Was sie allerdings nicht leugnen können, das sind die zentralen Enthüllungen, die der Film skizziert. Dass Anthony im Alter von drei Jahren von einem US-amerikanischen Pärchen gekauft und in die Staaten gebracht wurde, als Michael Hess eine politische Karriere unter den republikanischen Präsidenten Ronald Reagan und George Bush sr. machte, an AIDS erkrankte, zeitlebens nach seiner echten Mutter suchte und sogar das Magdalenenheim besuchte, in dem er geboren und auf dessen Friedhof seine Überreste nach seinem Tod im Alter von 43 Jahren begraben wurden, ohne dass man Philomena Lee darüber in Kenntnis setzte – so etwas kann sich nur das echte Leben ausdenken.
Vom Einzelschicksal zum Skandal
Doch so einzigartig die Geschichte von Philomena und Michael „Anthony“ Hess ist, sie ist kein Einzelfall. Als Martin Sixsmith im Jahre 2009 seinen Artikel mit dem Titel „The catholic church sold my child“ veröffentlicht, ist er von einem illegalen Babyhandel in der Katholischen Kirche überzeugt. Wie viele Neugeborene und Kleinkinder meistbietend verkauft wurden, ist aufgrund fehlender Unterlagen (im Film speisen die Schwestern Philomena Lee ab: Die Dokumente zu Anthonys Abholung seien durch ein Feuer zerstört worden. Die Erklärung jedoch, in der die heranwachsende Lee ihre „Rechte“ an dem Baby abtrat, ist zufälligerweise erhalten geblieben …) vermag der Journalist nicht zu beziffern. Er verweist jedoch auf den regen, überlieferten Ablasshandel – so konnten sich Frauen und ihre Kinder aus der Zwangsarbeit in den Heimen herauskaufen – und auf „tausende Seelen“, die zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der 1970er Jahre in diesen Einrichtungen zur Welt kamen.
Obwohl Sixsmith inzwischen wieder seiner journalistischen Leidenschaft – der Auslandspolitik – frönt, kehrt er immer wieder ins Human Interest-Fach zurück. 2015 ging er für eine Dokumentation (Ireland’s Lost Babies) weiteren Biografien von irischen Heimbabys in den Vereinigten Staaten nach. 2017 veröffentlichte er Ayesha’s Gift* – ein Buch über eine junge Frau, die die Hintergründe der Ermordung ihres Vaters in Pakistan zu ergründen versucht. Ob aus Kalkül oder aus Überzeugung – die Geschichte der Philomena Lee ist ein Vorzeige-Beispiel dafür, wie anhand eines Einzelschicksals flächendeckendes Unrecht journalistisch aufbereitet und für die Allgemeinheit greifbar werden kann.
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