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Die Erfindung von Anna Delvey: Inventing Anna (Netflix, 2022)

Die Netflix-Serie Inventing Anna erzählt die Geschichte der Hochstaplerin Anna Sorokin. Rekonstruiert wird sie von der Journalistin Vivian Kent.

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Die Netflix-Serie Inventing Anna erzählt die Geschichte der Hochstaplerin Anna Sorokin. Rekonstruiert wird sie von der Journalistin Vivian Kent.

Text: Valerie Wagner. Bildmaterial: Netflix

Manipulation, Macht, Gier – daraus lassen sich Geschichten spinnen. Mischt man dazu Kaltblütigkeit, Narzissmus und Ignoranz, ist die Story perfekt. Doch es kommt noch eine wichtige Zutat hinzu: Eine wahre Begebenheit. Seit 11. Februar 2022 läuft die Miniserie Inventing Anna auf Netflix. Die Hauptperson der wahren Geschichte: Anna Sorokin ist eine russisch-deutsche Hochstaplerin, die Teile der New Yorker Kunst- und Immobilienszene sowie namhafte Banken hinters Licht führte. Sie erschwindelte sich unter dem falschen Namen „Anna Delvey“ ca. 275.000 Dollar und wurde 2017 verhaftet.

Die US-amerikanische Drehbuchautorin und Produzentin Shonda Rhimes ist erfolgreich mit Serien und starken Frauen in der Hauptrolle. Sie produzierte How to get away with murder, Scandal oder die äußerst langlebige Krankenhausserie Grey’s Anatomy, die in die 19. Staffel geht. Und sie erzählt die Geschichte Inventing Anna in neun Folgen auf Netflix.

„Diese Geschichte ist vollkommen wahr, bis auf die Teile die frei erfunden sind.“

Diese Aussage steht vor Beginn jeder Folge, geschickt inszeniert auf Türen, in Bildern oder auf Displays. Kennt man die Artikel über Anna Sorokin nicht und hat den Prozess nicht verfolgt, könnte man meinen, es sei eine eigens für Netflix ersonnene Erzählung.

An eine fiktive Geschichte möchte man auch noch glauben, wenn man sich die Reportage über Anna Sorokin aka AnnaDelvey von der Journalistin Jessica Pressler durchliest. In ihrem Stück „Vielleicht hatte sie so viel Geld, dass sie es einfach aus den Augen verlor“ (Originaltitel: Maybe She Had So Much Money She Just Lost Track of It) beschreibt Jessica Pressler, wie Anna Sorokin die New Yorker High Society hinters Licht führte, um mehrere tausend Dollar prellte, sich Urlaube, Kleidung, Hotelaufenthalte und Partys von Freunden finanzieren ließ und 2017 wegen Diebstahls in mehreren Fällen verhaftet wurde.

Inventing Anna basiert auf einer echten Reportage

Die Reportage ist Grundlage für das Drehbuch der Netflix-Serie. Jessica Pressler ist als Produzentin der Serie beteiligt – und das nicht zum ersten Mal. Ihr Artikel The Hustlers at Scores aus dem Jahr 2015 wurde für einen National Magazine Award nominiert und 2019 als Spielfilm mit dem Titel Hustlers verfilmt.

Inventing Anna erzählt die Geschichte von Jessica Pressler und wie sie zu ihrer Reportage kam. In Rückblenden werden die Ereignisse dargestellt und das ganze Ausmaß des Betrugs nimmt Gestalt an.

Anna Clumsky spielt in Inventing Anna die Journalistin Vivian Kent. Sie ist - in Teilen - der echten Reporterin Jessica Pressler nachempfunden, die sich in Wirklichkeit mit dem Fall Anna Delvey beschäftigte.
Anna Clumsky spielt in Inventing Anna die Journalistin Vivian Kent. Sie ist – in Teilen – der echten Reporterin Jessica Pressler nachempfunden, die sich in Wirklichkeit mit dem Fall Anna Delvey beschäftigte.

Die wahre Geschichte

Anna Sorokin, bekannt geworden unter dem Pseudonym Anna Delvey, ist eine russisch-deutsche Hochstaplerin aus Eschweiler. Sie gab vor, der New Yorker High Society anzugehören und prellte über vier Jahre Banken, Freunde, Geschäftspartner, Hotels und weitere Unternehmen um 275.000 Dollar. Außerdem hatte sie versucht, sich für die Gründung ihrer „Anne Delvey Foundation“, die eine Mischung aus Kunstgalerie und Party-Treffpunkt für New York beherbergen sollte, 22 Millionen Dollar zu leihen.

2017 wurde Anna Sorokin zu einer Haftstrafe von mindestens vier bis fünfzehn Jahren verurteilt, kam 2021 frei und sitzt aktuell in Abschiebehaft. Im März sollte sie nach Deutschland ausgewiesen werden, da ihr Visum ungültig ist. Doch die Ausweisung schlug fehl, da eine Frist offenbar nicht eingehalten worden war. Anna Sorokin bleibt bis zum neuen Abschiebetermin im Gefängnis.

Anna Sorokin wurde in vier Fällen des Diebstahls von Dienstleistungen, in einem Fall des versuchten schweren Diebstahls und in drei Fällen des schweren Diebstahls für schuldig befunden.

Für die Netflix-Serie über ihre Lebensgeschichte erhielt sie ca. 320.000 Dollar. Damit wurden Anwaltskosten, Strafkosten und Rückerstattungen für Gläubiger bezahlt. Sie gibt Interviews aus dem Gefängnis heraus, z. B. im Podcast „Call her Daddy“ oder in Instagram-Lives. Am Ende hat sie nun doch erreicht, was sie wollte: Ruhm und Ehre. Dank der Möglichkeiten im Internet und in Social Media.

Eine Journalistin auf dem Abstellgleis

Die Journalistin Vivian Kent, gespielt von Anna Chlumsky (My Girl – Meine erste Liebe, The End of the Tour), soll über Me-Too-Fälle an der Wallstreet recherchieren. Der Fall Anna Sorokin/Delvey, der vor Gericht verhandelt wird, erscheint ihr jedoch spannender. Vivian pitcht die Story beim Verleger des (fiktiven) Manhattan Magazins und ihrem Chefredakteur Paul. Ohne Erfolg. Vivian fährt dennoch zum Gericht und nimmt Kontakt zum Verteidiger von Anna auf.

Bereits zu Beginn der Serie wird klar: Vivian will sich rehabilitieren. Wovon, bleibt zunächst offen. Ihr Arbeitsplatz ist eine Schreibtischinsel im Großraumbüro der Redaktion für Journalisten auf dem Abstellgleis, genannt „Skribirien“: Ein Ort für Journalisten, deren Pulitzer-Preise sie zwar vor der Entlassung bewahren, nicht aber davor, lausige Schreibaufträge zu bekommen. Dazu gehören Anna Deavere Smith (The West Wing) in der Rolle als Maud, Jeff Perry (Grey’s Anatomy, Scandal) als Lou und Terry Kinney (Save the last Dance, Law & Order) als Barry. Sie unterstützen die hochschwangere Vivian unerschütterlich bei ihrer Suche nach der wahren Geschichte von Anna Delvey.

Recherche und Gespräche auf Rikers Island

Im geplanten Kinderzimmer richtet sich Vivian eine Recherchewand ein und knüpft Verbindungen, mit Küchengarn und Klebeband, zwischen den Protagonisten in diesem Fall und geprellten „Freunden“ der Hochstaplerin. Sie schreibt Anna, die zu dieser Zeit in Untersuchungshaft auf Rikers Island, einer Gefängnisinsel im East River von New York, auf ihren Strafprozess wartet und bittet um ein exklusives Interview.

Anna beißt an – wer hätte es gedacht! Sie bittet Vivian, sie im Gefängnis zu besuchen. Der Weg nach Rikers ist beschwerlich, Vivian fährt mit dem Bus, muss umsteigen, einige Sicherheitskontrollen über sich ergehen lassen und mehrere Stunden warten, bis sie endlich auf Anna trifft.

Psychologische Spielchen auf der Gefängnisinsel

Anna Sorokin, gespielt von Julia Garner (Ozark, Sin City 2), betritt den Besuchsraum und begrüßt Vivian mit einem süffisanten Lächeln, aber flatternden Augen. Nun könnte man denken, das ist Unsicherheit. Ist es aber nicht, wie sich herausstellt. Vivian stellt ihre Fragen, notiert, hakt nach, schreibt auf. Am Ende stellt Anna eine Frage: „Sind Sie schwanger oder einfach nur fett?“ Nein, Anna Sorokin ist nicht unsicher! Sie ist schlicht unverschämt, eiskalt und berechnend. Der einzige Mensch, der ihr wichtig ist, ist sie selbst. Dieses Bild zeichnet Produzentin Shonda Rhimes von der Betrügerin.

Julia Garner schlüpft in die Rolle der Hochstaplerin Anna Sorkin, die unter dem Namen Anna Delvey die New Yorker High Society prellte.
Julia Garner schlüpft in die Rolle der Hochstaplerin Anna Sorkin, die unter dem Namen Anna Delvey die New Yorker High Society prellte.

Offizielle Medienanfrage – oder die Geschichte platzt!

Vivian rekonstruiert – die Journalistin fährt im Laufe der Serie viele Male nach Rikers Island – mit Hilfe von Interviews die Geschichte von Anna Sorokin. Anna fordert die Reporterin immer wieder auf, einen „Medienbesuch“ zu organisieren. Da gibt es einen eigenen Raum, Tee, man darf Aufnahmegeräte und Unterlagen mitnehmen. All das ist im gewöhnlichen Besuchsraum nicht möglich. Da Vivian anfangs ohne Erlaubnis des Chefredakteurs und des Herausgebers recherchiert, ist eine Medienanfrage zunächst keine Option. Für die Journalistin ist das auch gar nicht wichtig, sie möchte einfach mit Anna sprechen und ihre Erzählungen aufschreiben. Doch Anna erpresst Vivian und stellt ihr das Ultimatum: Entweder es gibt offiziellen Medienbesuch oder das Interview löst sich in Luft auf!

Vivian Kent setzt ihren Verleger unter Druck

Vivian gerät in Panik – ihre Geschichte droht zu zerfallen. Doch in ihrer Not dämmert ihr, wie sie Anna überzeugen kann, ihre Geschichte zu erzählen. Noch immer hat Vivian kein OK für ein exklusives Interview mit Anna, also wendet sie sich an ihren Herausgeber Landon Bloom, um ihn unter Druck zu setzen. Er sei es ihr schuldig, denn die Story ist wichtig für ihre Reputation.

Diese verlor sie vor einigen Jahren, als sie über einen Jungen berichtete, der angeblich 72 Mio. Dollar mit Aktienhandel verdiente. Was sich später als unwahr herausstellte; der Junge hatte gelogen, Kontoauszüge gefälscht und Vivian die Geschichte ungeprüft veröffentlicht. Allerdings hatte ihr Chefredakteur Paul, damals noch Freund und Kollege, ebenfalls die Finger im Spiel: Er hatte Vivian gebeten, den Text für ihn zu übernehmen. Das Ergebnis: Paul wurde befördert; Vivian landete in „Skribirien“ und die Freundschaft war beendet. Nun willigt Landon ein und gibt Vivian zwei Wochen, um die Story „absolut wasserdicht“ zu recherchieren und zu veröffentlichen. Als Paul davon erfährt, ist er außer sich. Landon entgegnet: „Noch zwei Monate, Paul, dann ist sie in Mutterschutz.“

Fiktion oder Realität: Vivian Kent vs. Jessica Pressler

Wenn die Geschichte um Anna Sorokin wahr ist, wie viel Wahres steckt in der Figur der Vivian? Eine ganze Menge, wie „Vorbild“ Jessica Pressler in einem Interview auf vulture.com verriet. 2014 veröffentlichte die Reporterin einen Beitrag im New York Magazine Intelligencer zum Thema Reasons to love New York. Darin berichtete sie von einem Minderjährigen, der angeblich 72 Mio. Dollar durch Aktienhandel verdient hatte. Dies stellte sich noch am Tag der Veröffentlichung als falsch heraus. Aufgrund dieses Ereignisses zog Bloomberg News ein Jobangebot in der investigativen Abteilung an Pressler zurück.

Pressler: „Ich habe Shonda und die anderen nicht auf die „Reasons to Love“-Geschichte aufmerksam gemacht, das war einfach etwas, das sie gefunden haben, da es leicht zu googeln war. […] Ich verstehe, dass es diese Parallele gibt, wenn Du über einen Hochstapler schreibst und dann herauskommt, dass Du selbst betrogen wurdest.”

Welche Freiheiten sich Inventing Anna erlaubt

Und über „Skribirien“ erzählt sie: „Scriberia ist in der Serie und im wirklichen Leben das Land der Longform-Autoren, was beim New York Magazine ein wunderbarer Ort war. […]. Wie beim Manhattan Magazine waren die meisten […] Reporter der alten Schule, die viel und manchmal ziemlich laut telefonierten, was wahrscheinlich der wahre Grund für die Lage im hinteren Bereich des Büros war. Aber die fiktive Version fühlt sich im Geiste ähnlich an, was die gesellige Atmosphäre angeht – die Art und Weise, wie die Reporter sich gegenseitig helfen und auch viel meckern.“

Anders als in der ersten Folge dargestellt, erhielt Jessica Pressler den Tipp zu „Anna Delvey“ über einen Gerichtsfotograf. Auf Netflix ist es eine Agenturmeldung, die Vivians Aufmerksamkeit erregt.

In der Serie fährt Vivian erst nach der Veröffentlichung ihrer Story nach Deutschland, um über die Eltern und die schulische Vergangenheit von Anna Sorokin zu forschen. Jessica Pressler flog während ihrer Recherchen für die Reportage bereits nach Eschweiler und befragte die Eltern, ehemalige Lehrer und Mitschüler vor Ort.

Besonders überzeichnet ist die letzte Szene: Vivian ist gerade dabei, den Artikel zu veröffentlichen, in letzter Minute – da platzt ihre Fruchtblase und das Kind will auf die Welt. Die echte Reporterin hatte den Artikel bereits Wochen vor der Geburt veröffentlicht.

Interview-Session hinter Gittern: Vivian besucht Anna Delvey auf Rikers Island.
Interview-Session hinter Gittern: Vivian besucht Anna Delvey auf Rikers Island.

Wie viel Journalismus steckt in Vivian Kent?

Angespannt und verbissen arbeitet sich Vivian an der Geschichte ab. Sie will ihren Ruf korrigieren, die schlecht recherchierte Geschichte hinter sich lassen und mit einer neuen, großartigen und perfekt belegten Story zurück ins Geschäft. Während der neun Folgen wird immer wieder klar: Sie will Ruhm und Ehre, noch vor der Geburt ihrer Tochter die Weichen stellen. Zu ihrem Mann sagt sie: „Meine Geschichte kann man googlen, ich bekomme nirgendwo sonst eine Anstellung.“ Dass sie ihren Ruf ausgerechnet mit einer Geschichte über eine Hochstaplerin wiederherstellen will, trägt etwas Komisches.

Vivian kann Menschen überzeugen, über ihre Geheimnisse zu sprechen. Das sollten gute Interviewer können. Sie weiß, wie sie Anna zum Reden bringt und für das exklusive Interview gewinnen kann. Auf eine gewisse Art manipuliert sie, genauso wie Anna andere Menschen beeinflusste, um Geld zu erschleichen. Sie erzählt Anna, was sie hören will, stellt ihr Ansehen und Berühmtheit in Aussicht. Vivian Kent und Anna Sorokin sind sich sehr ähnlich. Das wird auch Vivian bewusst. Nach Veröffentlichung der Story, geht sie dann doch noch ihrer journalistischen Sorgfaltspflicht nach und sucht nach Annas Eltern in Deutschland.

Unvollständige Recherche?

Im Gespräch mit Valentina Valentini auf der Website der Produktionsfirma „Shondaland“ antwortet Jessica Pressler auf Frage, inwieweit sich die in der Serie dargestellte Recherche von der in der Realität unterscheidet:

„Ich hatte keine Mordwand. Auch nicht im Kinderzimmer. Ich wünschte, ich hätte eine – ich bin ein bisschen neidisch auf die von Vivian. Und einen Ultraschalltermin habe ich auch nicht verpasst. Die Zeitabläufe sind anders, und die Art und Weise, wie sie sich entfalten, sind anders. Einige Sachen sind zum Teil sehr real, andere völlig erfunden. In vielen Interviews sagen die Figuren in der Serie Dinge, die mir auch gesagt wurden, allerdings in anderen Situationen und auch in anderer Art und Weise, wie es dargestellt wird. […]

Ich muss sagen, dass der Tonfall ganz anders ist als in meinem wirklichen Leben. Journalisten im Fernsehen sind viel konfrontativer. Ich weiß nicht, ob das daran liegt, dass andere Journalisten konfrontativer sind, aber ich würde nie in ein erstes Interview gehen und mich mit jemandem streiten. Ich habe mich später mit Leuten gestritten, die ihren Namen in der Geschichte nicht erwähnt wissen wollten. Aber ich denke, diese Art der Konfrontation ist nur etwas fürs Fernsehen.“

Inventing Anna: Geht es nicht auch etwas kürzer?

Die Journalistin kommt in der Serie nicht gut weg. Die unvollständige Recherche, dass sie sich anfäglich instrumentaliseren lässt und später gemein macht mit der Protagonistin und ihrer Geschichte, sind keine Merkmale eines seriösen Journalismus. Es bleibt ein fader Beigeschmack nach den neun Folgen, deren Geschichte auch in einen 90 bis 120-minütigen Film gepasst hätte.

Über die Autorin:
Valerie Wagner widmet sich auf ihrem Blog „Text & Podcast“ journalistischen Formaten, Geschichten, Filmkritiken und Buchrezensionen. Bei Twitter zwitschert sie unter @ValerieWagner_.
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