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Mehr als ein Journalistenfilm: Colectiv (Kollektiv – Korruption tötet, 2020)

In Colectiv schreiben Journalist*innen gegen eine Politik an, die Profit über Menschenleben stellt. Im Zentrum steht ein Skandal in Rumänien.

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In Colectiv schreiben Journalist*innen gegen eine Politik an, die Profit über Menschenleben stellt. Im Zentrum steht ein Skandal in Rumänien.

„Wenn sich die Presse vor den Behörden verneigt, werden die Behörden die Menschen schlecht behandeln.“ Fast möchte man meinen, der Skandal hinter Colectiv sei zu verschwörerisch, um wahr zu sein. Dokumentarfilmer Alexander Nanau belehrt uns eines Besseren. Er zeichnet das Sittengemälde einer korrupten Politik, die Profit über Menschenleben stellt. Colectiv ist ein Film, der sprachlos und wütend macht.

Text: Patrick Torma. Bildmaterial: Magnolia Pictures.

Das Unheil beginnt ausgelassen: Die Metalcore-Band Goodbye to Gravity bittet anlässlich ihres neuen Albums zum Tanz in den Bukarester Nachtclub Colectiv. Pyrotechnik kommt zum Einsatz. Funken springen über. Aber nicht im gewollten Sinne. „Das gehört nicht zur Show“, erkennt auch Sänger Andrei. Während er das sagt, greift das Feuer auf Decke und Wände über. Alles geht rasend schnell. Und doch ziehen sich diese Szenen wie eine Ewigkeit.

Kamerawechsel. Wir befinden uns plötzlich mitten im Zuschauerraum, erleben die Katastrophe aus der Ego-Perspektive mit. Wie dichter Rauch den in Panik geratenen Menschen die Orientierung nimmt. Wie ein Kurzschluss den Club für einen Moment in völlige Dunkelheit hüllt. Wie gleißende Flammen schließlich alles erfassen. Qualvolle Schreie gehen im brutalen Lodern unter.

Tedy Ursuleanu hat die Brandkatastrophe im Bukarester Nachtclub Colectiv überlebt. Sie verarbeitet ihr Trauma recht offensiv - den Blick in die Zukunft gerichtet.
Tedy Ursuleanu hat die Brandkatastrophe im Bukarester Nachtclub Colectiv überlebt. Sie verarbeitet ihr Trauma offensiv – den Blick in die Zukunft gerichtet.

Die Lügen einer Regierung kosteten Konzertgänger*innen das Leben

Mit diesen fürchterlichen Bildern, die das Unvorstellbare erahnen lassen, steigt der Dokumentarfilm Colectiv ein. Der Film gibt uns keine Zeit, das Gesehene zu verarbeiten. Schon folgt der nächste Nackenschlag. Wobei: Dass die Clubbetreiber Brandschutzbestimmungen missachtet haben, kommt angesichts des Themas wenig überraschend. Von den etwa 400 Menschen im Club sterben 28 noch am Brandort, rund 150 werden zum Teil schwer verletzt. Das allein reicht, um uns sprachlos zurückzulassen. Was aber niemand mehr versteht: Warum in den Folgetagen weitere 36 Konzertgänger*innen sterben müssen. Dabei hatte die rumänische Regierung die optimale Versorgung der Brandopfer versprochen. Der medizinische Standard in den rumänischen Kliniken sei genauso gut „wie in Deutschland“, hieß es.

Von diesem Moment an reiht Colectiv Skandale wie Perlen auf einer Schnur aneinander: Katastrophale hygienische Zustände und ein überfordertes Personal in den Krankenhäusern. Ein Pharmaunternehmen, das bis zur Wirkungslosigkeit verdünnte Desinfektionsmittel vertreibt. Ein Inhaber, der mithilfe eines Off-Shore-Konstrukts Schwarzgeld generiert, das als Schmiermittel in Politik und Gesundheitswesen zurück in den Kreislauf gelangt. Ein durch und durch korruptes System, das auf Vertuschung basiert. Der Plot scheint einem über-konstruierten Journalistenthriller entsprungen, die Kette der Verschwörungen wirkt nahezu surreal. Dass wir Colectiv letztlich nicht mit einem fiktiven Lehrstück verwechseln, liegt am trostlosen Realismus der Dokumentation. Auch wenn es Klischees bedient: Rumänien im Winter, das ist das traurig-ideale Setting für eine Nation in Schockstarre.

Mirela Neag und Cătălin Tolontan von der Sportzeitung Gazeta Sporturilor fragen sich, warum so viele Überlebende in den rumänischen Krankenhäuser sterben mussten.
Mirela Neag und Cătălin Tolontan von der Sportzeitung Gazeta Sporturilor fragen sich, warum so viele Überlebende in rumänischen Krankenhäuser sterben mussten.

Ein Plädoyer für beharrlichen Journalismus ohne jeden Pathos

Alles in Colectiv wirkt noch eine Spur grauer als im echten Leben. Das gilt auch für den im Film porträtierten Redaktionsalltag der Gazeta Sporturilor. Enthüllungsjournalismus bedeutet eben wenig Glamour. Dass sich ausgerechnet eine Sportzeitung berufen fühlt, investigativ nachzuhaken, ist bemerkenswert-entlarvend. „So weit ist es schon gekommen“, tönt ein Demonstrationsteilnehmer vor einem Regierungsgebäude. Die Menge spendet Applaus für die anwesenden Journalist*innen. Es ist der einzige, ansatzweise feierliche Moment in der Dokumentation.

Darüber hinaus verzichtet Colectiv auf Szenen, die Schneisen für Pathos schlagen könnten. Es gibt keine journalistische Origin-Story, keine explizite Kollegenschelte. Die Gazeta Sporturilor ist ganz uneitel zur Stelle. Der Journalismus in Colectiv wird nicht als Waffe heldenhafter Idealist*innen verklärt, er ist das Werkzeug von Pragmatiker*innen, die wissen: Lassen sie journalistisch locker, dann gibt es Kräfte, die jeden Zentimeter ihres neu gewonnenen Spielraums auszureizen wissen.

Ausgerechnet eine Sportzeitung geht bei der Enthüllung eines Medizinskandals auf höchster politischer Ebene voran. Der Film Colectiv macht daraus aber keine große Sache.
Ausgerechnet eine Sportzeitung geht bei der Enthüllung eines Medizinskandals auf höchster politischer Ebene voran. Der Film Colectiv macht daraus aber keine große Sache.

Einblicke in das Seelenleben einer investigativen Sportredaktion

Pflichtschuldig verrichtet das Team um Chefredakteur Cătălin Tolontan seine investigative Arbeit. Quellen auftreiben, Fakten einholen, die Zuverlässigkeit durch weitere Quellen bestätigen lassen – immer und immer wieder. Sorgfalt ist das oberste Gebot, denn jeder noch so kleine Fehler kann die Glaubwürdigkeit der gesamten Recherche zunichte machen. Es gibt genügend Leute, die nur darauf warten, die Presse zu diskreditieren. Als der mutmaßliche Pharma-Panscher durch einen Autounfall stirbt, unterstellen regierungsnahe Stimmen den Journalist*innen, sie hätten den Unternehmer in den Selbstmord getrieben.

Medienfeindliche Narrative kennt man also auch in Rumänien. Die Kampagne geht nicht spurlos an der Gazeta Sporturilor vorüber. Zweifel erfassen die Redaktion: Monat für Monat schiebt sie neue Enthüllungen an, und doch hält sich die Skepsis der eigenen Berichterstattung gegenüber hartnäckig. Ist man noch auf dem richtigen Weg? Oder läuft man Gefahr, sich zu verrennen? In einem Moment der Ernüchterung äußert Redakteurin Mirela Neag ihre große Sorge: „Die Story ist so haarsträubend, dass ich fürchte, unsere Leser halten uns für verrückt.“

Vlad Voiculescu versucht als Übergangs-Gesundheitsminister den Sumpf der Korruption im Gesundheitswesen auszutrocknen. Immer neue und unfassbare Entdeckungen machen den engagierten Politiker mürbe...
Vlad Voiculescu versucht als Übergangs-Gesundheitsminister den Sumpf der Korruption im Gesundheitswesen auszutrocknen. Immer neue und unfassbare Entdeckungen machen den engagierten Politiker mürbe…

Authentisch, transparent, aufwühlend…

Colectiv lässt immer wieder solche Einblicke in das Seelenleben seiner Protagonist*innen zu. Ein nervöser Zug an der Zigarette. Sorgenfalten, die immer tiefer werden. Eine geballte Beckerfaust, wenn ein Informant am Telefon die Bestätigung für den nächsten Artikel liefert. Nichts wirkt gekünstelt, die Journalist*innen sind zu sehr mit Wichtigerem beschäftigt, als dass sie sich Gedanken um ihre Selbstinszenierung machen könnten. Kein Vergleich zur kürzlich veröffentlichten Amazon-Dokumentation BILD.Macht.Deutschland?, wo der Einfluss der anwesenden Kameras für alle Beteiligten – sowohl für die Zuschauer*innen als auch für die Redakteur*innen im Springer-Office – nur allzu spürbar ist. Als die Journalist*innen der Gazeta Sporturilor mit Gewaltandrohungen konfrontiert werden, herrscht gespenstische Stille in der Redaktionskonferenz. Sie werden zwar weiter machen. Es gibt aber keine Kampfansagen, kein „Jetzt erst recht“. Dafür sind die Kolleg*innen zu geschockt.

Wie eine Dokumentation selten zuvor nimmt Colectiv Anteil an echter, unmittelbarer journalistischer Arbeit. Es gibt keine Einspieler, in denen die handelnden Personen gewisse Handlungen oder Ereignisse im Nachhinein reflektieren. Regisseur Alexander Nanau begleitete die Reporter*innen in der Hochphase ihrer Recherchen. Nicht immer wird deutlich, wie einzelne Querverbindungen zustande kommen. Da Quellen in der Redaktion der Gazeta Sporturilor „sakrosankt“ sind, müssen wir mit einzelnen Leerstellen leben. Die Gemengelage ist ohnehin zu komplex, um sie in allen Details abzubilden. Und wenn doch mal Informant*innen gezeigt werden, hat es nie den Anschein, als seien diese aus dramaturgischen Gründen vor die Kamera gezerrt worden.

Nachdenkliche Miene. Chefredakteur Tolontan leidet merklich. Colectiv blickt in das Seelenleben einer Redaktion, ohne überflüssige Dramatisierungen.
Nachdenkliche Miene. Chefredakteur Tolontan leidet merklich. Colectiv blickt in das Seelenleben einer Redaktion, ohne überflüssige Dramatisierungen.

Warum Colectiv weitaus mehr als nur ein Journalistenfilm ist

Das Zusammenspiel aus Authentizität und Transparenz, vor dem Hintergrund eines schier unglaublichen Skandals, sorgte dafür, dass Colectiv bei seinem US-Streaming-Start im vergangenen November mit überschwänglichen Kritiken bedacht wurde. Das Online-Filmmagazin Indiewire adelte die Dokumentation, die von rumänischer Seite als Beitrag für die Oscarverleihungen 2021 in der Kategorie Bester Internationaler Film eingereicht wurde, als „einen der besten Journalistenfilme aller Zeiten“. Das kann man so sehen. Doch eigentlich greift dieses Label viel zu kurz. Colectiv ist mehr als die Chronologie einer beharrlichen Recherche. Es ist die Bestandsaufnahme einer Nation, die sich danach sehnt, international Schritt halten zu können, nach über 25 Jahren aber immer wieder von den Geistern Ceauşescus eingeholt wird.

Um die Vergangenheit abzuschütteln, braucht es – da wird der Filmtitel zum programmatischen Fanal – ein Kollektiv beherzter Akteur*innen. Dazu gehören die Journalist*innen der Gazeta Sporturilor. Ihre Arbeit allerdings wäre nicht möglich ohne die Informant*innen, die den Mut aufbringen, Missstände aufzudecken. Darüber hinaus braucht es reformbereite Politiker wie Vlad Voiculescu (dessen aufrichtiges wie aussichtsloses Wirken als Übergangs-Gesundheitsminister gut ein Drittel des Films einnimmt), die willens sind, die verkrusteten Strukturen im System aufzubrechen. Überlebende wie Tedy Ursuleanu, die nicht in Trauer und Groll versinken, sondern ihren Blick auf die Zukunft richten. Diese Menschen sind wie Lichtblicke in einem düsteren Film, der sich keinerlei Verklärungen hingeben mag. Aussicht auf eine schnelle, schmerzlose Heilung gibt es nicht: Weder für die Betroffenen der Colectiv-Katastrophe, noch für rumänsiche Republik.

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