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Ohne Worte #8: Anatomie einer Hysterie – Hitchcocks „Der Mieter“ (1927)

In Hitchcocks Der Mieter hält eine Mordserie London in Atem: Die Nachrichten verbreitet sich in Windeseile – Presse sei Dank.

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In Hitchcocks Der Mieter hält eine Mordserie London in Atem: Die Nachrichten verbreitet sich in Windeseile – Presse sei Dank.

Zum wiederholten Male wird eine junge Dame tot aufgefunden. Parallel quartiert sich ein unheimlicher Einzelgänger (Ivor Novello) in einer Pension ein. Nicht nur sein Hang zu nächtlichen Ausflügen wirkt verdächtig. Auch sein ausgeprägtes Interesse an der Tochter des Hauses lässt die Herbergseltern schlecht schlafen. Könnte der Mieter der gesuchte Frauenmörder sein?

Text: Patrick Torma. Bildmaterial: Indigo.

Der Mieter (OT: The Lodger) gilt als einer der besten britischen Stummfilme, Alfred Hitchcock bezeichnete seine Jack The Ripper-Variation als seinen „ersten richtigen Film“. Der Mieter offenbart bereits ein Repertoire an Markenzeichen, die sich durch das Œuvre des Filmemachers ziehen. Das fängt bei Hitchcocks erstem Karriere-Cameo an. Zu Beginn huscht der Regisseur als einer der zahlreichen Schaulustigen am Tatort durch die Szenerie. Ohne allzu viel zu verraten: Auch Thema des Films, Charakterzüge der handelnden Figuren und Stilmittel haben Wiedererkennungswert.

Ein Aspekt soll an dieser Stelle hervorgehoben werden, weil er für die Betrachtung der journalistischen Komponente des Films relevant ist: die narrative Ökonomie. Tatsächlich beruht Hitchcocks inszenatorischer Grundsatz, erzählerische Zusammenhänge vornehmlich auf der Ebene der Bilder zu knüpfen, auf seinen Erfahrungen mit dem Medium Stummfilm. Für Der Mieter reduzierte der Regisseur – auf Anraten des Editors Ivor Montagu – die Anzahl der ursprünglich verwendeten Texttafeln auf ein Viertel.

Der Auftakt von Der Mieter: Eine ökonomische Massenhysterie

Die Anfangssequenz von Der Mieter ist die verdichtete Anatomie einer Hysterie. Es beginnt mit einem einzelnen Reporter, der die Nachricht von der Ermordung einer jungen Blondine via Telefon an die Agentur übermittelt. Von dort aus läuft die Kunde über den Agentur-Ticker. Schlagzeilen werden ersonnen, die Zeitungspresse rotiert, die druckfrischen Erzeugnisse werden ausgeliefert und eifrigen Zeitungsjungen aus den Händen gerissen.

Abgesehen davon, dass Hitchcock eine eindrucksvolle Montage einer Zeitungsproduktion auf Film bannt – jede neue Einstellung liefert neue Informationen, die für das Verständnis der Geschichte wichtig sind: Wir erfahren, dass dies nicht der erste Mord war. Dass die Opfer immer weiblich sind, bevorzugt Blondinen. Dass der Täter immer dienstags zuschlägt. Der Verdächtige sein Gesicht mit einem schwarzen Schal vermummt und mit einem großen Koffer in der Hand gesehen wurde.

Zeitung, Radio, Laufschrift: Eine Nachricht erschüttert London

Die Neuigkeiten – heute würden sich die Behörden bemühen, gewisse Informationen aus „ermittlungstaktischen Gründen“ für sich zu behalten – verbreiten sich wie ein Lauffeuer. Als zusätzlicher Distributionskanal kommt das junge Massenmedium Radio hinzu. Zum Schluss schweben die schlechten Nachrichten wie ein unheilvolles Omen über die Köpfe der Menschen hinweg – auf den Wanderschriftanlagen an den Häuserfronten belebter Plätze.

Der Killer ist so allgegenwärtig, der nächste Mord scheint unausweichlich. In der Stadtgesellschaft gibt es kein anderes Gesprächsthema mehr. Auf den Straßen herrscht kollektive Angst. Blonde Frauen stecken sich schwarze Haarsträhnen unter den Hut. Die Stimmung ist aufgeheizt. Der Mieter thematisiert so das immerwährende Dilemma journalistischer Berichterstattung über Gewalttaten: Welchen Nachrichtenwert messen Medien einem Verbrechen bei? Bis wohin kommen sie ihrem Informationsauftrag nach? Und inwieweit haben sie eine präventive Verantwortung, was unerwünschte Folgeerscheinungen betrifft? In Der Mieter ist es die Massenhysterie, die grassiert. Weitere Konsequenzen wie etwa Nachahme-Effekte werden angedeutet.

Von Der Mieter von 1927 bis in die Gegenwart ist es ein kurzer Weg

Freilich: Der Mieter ist nur am Rande ein Film über die Wirkmechanismen von Medien, die Auswüchse der Berichterstattung bilden „lediglich“ eine Klammer, die dem Finale eine zusätzliche Brisanz verleiht. In gewisser Weise ist Hitchcocks Frühwerk jedoch ein Vorläufer für Beiträge, die sich eingehender mit der Thematik befassen. Man denke beispielsweise an David Finchers Zodiac – Die Spur des Killers: Der Film seziert nicht nur gesellschaftliche Phänomene eines Hypes, sondern zeigt auch, wie ein geltungssüchtiger Mörder die Medien instrumentalisiert. Von dort aus ist es nur noch ein kurzer Gedankensprung zu den Debatten unserer heutigen Zeit, die die mediale Aufarbeitung und Wahrnehmung aufsehenerregender Mordtaten betreffen, sei es im Zuge von Amokläufen an Schulen oder terroristischen Anschlägen.

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