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Die Presse im Profit-Sumpf: Verlorene Illusionen (2022)

Verlorene Illusionen entführt uns ins Paris des 19. Jahrhundert: Dort sind die Redaktionsbudgets üppig und journalistische Ideale lästig.

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Verlorene Illusionen entführt uns ins Paris des 19. Jahrhundert: Dort sind die Redaktionsbudgets üppig und journalistische Ideale lästig.

Text: Patrick Torma. Bildmaterial: Cinemien.

Endstation Journalismus: Voller Hoffnungen kommt Lucien Chardon (Benjamin Voison) in das Paris der 1840er-Jahre. An der Seite der Adeligen Louise de Bargeton (Cécile de France) reist der Apothekersohn in die französische Hauptstadt, um sich in der Kunst der schönen Worte einen Namen zu machen. Louise, die Gefühle für den jungen Poeten hegt, führt ihn in die monarchentreue High Society ein. Doch Luciens einfache Herkunft sorgt in der feinen Gesellschaft, wo jede unbedachte Geste einem „Messerstich in einem Meisterwerk“ gleichkommt, für Gesprächsstoff. Aus „Imagegründen“ entscheidet sich Louise, ihren Liebhaber fallenzulassen.

Der steht plötzlich ohne Verbindungen da und droht, von der Hauptstadt verschluckt zu werden. „Aufgefangen“ wird er von Etienne Lousteau (Vincent Lacoste), Redakteur eines liberalen Meinungsblättchens, von denen Paris dieser Tage überschwemmt wird. Der technische Fortschritt hat die Zeitungsproduktion einfacher und erschwinglicher gemacht, die rotierende Druckerpresse realisiert im Nu Auflagen in schwindelerregender Höhe. Parallel entwickelt sich ein Werbemarkt, Anzeigenplatzierungen in den reichweitenstarken Zeitungen finden reißenden Absatz.

Auswüchse der Presse im Frankreich des. 19 Jahrhunderts

Als glühender Verfechter der Dichtkunst steht Lucien dem plakativen Journalismus und dessen Hang zu Schlagworten skeptisch gegenüber, zumal er sämtliche Vorteile, die er bislang über die „lächerliche Welt der Zeitungen“ sammelte, bestätigt sieht. Hier werden Meinungen gemacht und am nächsten Tag wieder verworfen. Doch Lucien braucht das Geld. Und davon gibt es reichlich, sofern man bereit ist, seine Ideale hintenan zu stellen. Schon bald lässt er sich von der Goldgräberstimmung anstecken …

Der französische Schriftsteller Honoré de Balzac schuf Mitte des 19. Jahrhunderts ein literarisches Serien-Universum. Die menschliche Komödie umfasst beinahe 90 Romane und Erzählungen, es tauchen wiederkehrende Figuren auf, die sich allesamt durch das zentrale Thema des Zyklus schlagen. De Balzacs ambitioniertes Ziel war es, den Zustand der französischen Gesellschaft in den Jahren der Restauration zu dokumentieren. Die französische Revolution war passé, Monarchie und Adel schickten sich an, erneut auf dem Sitz der Macht zu fläzen. Der dreiteilige Band Verlorene Illusionen zählt zu den berühmtesten Auszügen de Balzacs menschlicher Komödie.

Etienne Lousteau (Vincent Lacoste) führt Lucien Chardon (Benjamin Voison) in die Gepflogenheiten der Kommerzpresse ein. Der lässt schon bald all seine künstlerischen Ambitionen und sein Gewissen fahren.

Verlorene Illusionen auch im Redaktionsbetrieb

Verlorene Illusionen nimmt sich die Verflechtungen des Pariser Zirkels vor. Der Journalismus, oder das, was sich als solcher schimpft, ist in diesem Moloch der Nährboden, auf dem Korruption und rücksichtsloser Kapitalismus gedeihen. Dieser Filz macht auch vor der Literatur keinen halt. Gelesen wird, wer einen Namen hat – und den erschreibt man sich entweder mit Hilfe von Beziehungen oder dem Zutun finanzieller Zuwendungen. Als Schriftsteller, der sich immer wieder auch als Journalist und Verleger verdingte, wusste Honoré de Balzac, wovon er schrieb. Unter anderem arbeitete er mit dem späteren Zeitungsmagnaten Émile de Giradin zusammen. Giradin wurde immer wieder, wenn auch umstritten, mit der Erfindung der Zeitungswerbung in Verbindung gebracht – eine der Wurzeln des Übels in Verlorene Illusionen.

Xavier Giannoli überführt de Balzacs Vorlage in ein intrigenreiches und ausschweifendes Historienspektakel. Das Zeitungsgeschäft inszeniert der französische Filmemacher als rauschhaften Sündenpfuhl. Haschisch und Champagner gehören zur Themenfindung in der Redaktionskonferenz dazu, über die Auswahl der Romane, die in der kommenden Ausgabe besprochen werden, und damit über Ruhm oder Missachtung von Autoren, entscheidet ein Äffchen. „Unsere Aufgabe ist es, die Aktionäre der Zeitung reich zu machen – und darauf zu achten, dass wir einstreichen“, gibt Etienne die Losung vor. Lucien, der nun die Werke auseinandernimmt, die er ursprünglich mal schreiben wollte, erweist sich als eifriger Lerner. „Gute Kritiken sind schwieriger zu schreiben als schlechte“, weiß er schon bald. Und versteigert seine Gunst meistbietend. Neben einem hübschen Einkommen bringt ihm die opportune Schreiberei auch die Aufnahme in elitäre Kreise ein…

De Balzacs Abrechnung und Giannolis Brücken ins Jetzt

Verlorene Illusionen macht seinem Titel alle Ehre. Wo der Journalismus nicht mehr als ein Broterwerb für Gestrandete ist, Prinzipienlosigkeit als Qualitätsmerkmal eines anerkannten Kritikers herhält und Reporter ungeniert auf ihre Lügen anstoßen, gibt es nichts, was zur journalistischen Ehrenrettung beitrüge. Dieser Medienbetrieb ist ein ziemlicher Sumpf, ganz im Sinne der de Balzac’schen Abrechnung. Dass Giannoli darüber Brücken in die Gegenwart schlägt, ist angesichts Dialogzeilen wie dieser nur offensichtlich: „Dank eines Netzwerkes aus Vögeln (gemeint sind an der dieser Stelle Brieftauben, Anm. d. Autors) verbreiten sich Falschmeldungen in Windeseile“. Und wenn es heißt: „Wir machen Nachrichten in der Farbe, die unseren Lesern schmeichelt“, denkt man unweigerlich an die publizistische Melange zwischen Meinungsmache und Anbiederung, wie sie von BILD-Zeitung & Co. praktiziert wird. Die Käuflichkeit medialer Inhalte, Influencertum als Wirtschaftszweig und die Manipulation der öffentlichen Meinung durch gesteuerte Sockenpuppen sind weitere aktuelle Bezüge, die sich aus dem historischen Setting herausfiltern lassen.

Ob dramaturgisch zurechtgebogen oder nicht: Dass sich in einem solchen Stoff so viele Parallelen zum Hier und Jetzt finden lassen, lässt tief blicken. Medien und Mechanismen mögen sich wandeln, Profitstreben und die Eitelkeit des Menschen bleiben. Freilich: De Balzac würzte sein Sittengemälde der französischen Gesellschaft mit scharfer Feder, und in seiner zweieinhalbstündigen Laufzeit ist Verlorene Illusionen, wenn überhaupt, nur am Rande ein (Anti-)Journalistenfilm. Davon ab ist Xavier Giannolis Adaption eine sehenswerte Schlangengrube mit Sogwirkung.

Verlorene Illusionen läuft am 22. Dezember 2022 in den deutschen Kinos an. Der Film wurde mir vorab vom Verleih für eine Besprechung zur Verfügung gestellt.

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