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Alte Methoden, aktuelle Fragen: Der Journalismus in Kennwort 777 (1948)

In Kennwort 777 wird ein zynischer Reporter zum Wahrheitsverfechter - dank nicht mehr ganz so frischer Technik. Relevant ist die Story noch immer

The Ape Man (1943): Affentheater im Blätterwald
Klunker-Hatz über den Wolken: Bombay Clipper (1942)
Die Frau, von der man spricht (1942): Geschlechterkampf in der Zeitungsredaktion:

In Kennwort 777 wird ein zynischer Reporter zum Wahrheitsverfechter – dank nicht mehr ganz so frischer Technik. Relevant ist die Story noch immer.

Text: Patrick Torma. Bildmaterial: Pidax.

Hinweis: Der Beitrag ist Teil des Klassikerprogramms zum 10-jährigen Bestehen von journalistenfilme.de

Die USA, zu Beginn der 1930er-Jahre. Die Prohibition treibt kriminelle Blüten. Hochprozentiges ist eigentlich verboten, doch der Alk fließt weiterhin, in so genannten Speakeasies: illegale Kneipen, verborgen in den Hinterzimmern unscheinbarer Geschäfte.

In einer solchen als Feinkostladen getarnten Bar in Chicago läuft eine Polizeikontrolle aus dem Ruder. Ein Streifenpolizist wird erschossen. Schnell werden zwei Verdächtige verhaftet und verurteilt – darunter der Kleinkriminelle Frank Wiecek (Richard Conte, Der Pate).

Eine Anzeige als Aufhänger für eine gute Story

Damit hat sich der Fall für die Behörden erledigt. Elf Jahre später erscheint in der Chicago Times eine ungewöhnliche Anzeige: Darin werden stolze 5.000 Dollar für Hinweise ausgelobt, die Wiecek entlasten. Der knurrige Chefredakteur der Times, Brian Kelly (Lee J. Cobb), setzt seinen Reporter P.J. McNeal (James Stewart) auf die Story an. „Prüfen Sie das nach!“, bellt er. „Vielleicht werden Sie damit berühmt.“

Genervt geht McNeal der Telefonnummer in der Anzeige nach: Northside 777 (womit sich halbwegs erklärt, wie der deutsche Verleih auf den sinnentleerten Titel Kennwort 777 kam). Die Spur führt zu Wieceks Mutter, die ihr karges Salär als Putzhilfe zusammengekratzt hat, um die Unschuld ihres Sohnes zu beweisen.

James Stewart in einer journalistischen Hauptrolle

Der Journalist zögert: Soll er etwas schreiben, das einem verurteilten Polizistenmörder Publicity beschert? Doch die Geschichte vom Hausmütterchen, die sich in falscher Hoffnung die alten Knochen wundschrubbt, ist sensationell sentimental; wie maßgeschneidert für eine gute Human-Interest-Story. Das findet auch Boss Kelly. McNeal muss also weiter ran. Gut so. Denn je tiefer er in die Recherche einsteigt, desto klarer wird ihm: Wieceks Verurteilung beruht auf einem weitreichenden Justizskandal.

Kennwort 777 von 1948 ist ein Journalistenfilm-Klassiker aus der zweiten Reihe: durchaus bemerkenswert, aber auch in Vergessenheit geraten. Mit Lee J. Cobb, den die meisten als renitenten Geschworenen Nr. 3 aus Die 12 Geschworenen kennen dürften, und James Stewart (Ist das Leben nicht schön?) stehen zwei prominente Namen oben auf der Besetzungsliste – wobei Letzterer in seiner Rolle als oberskeptischer Reporter gegen sein Image als liebenswerter Jedermann anspielt. 

Ein Journalistenfilm-Klassiker aus der zweiten Reihe

Die Regie führt Henry Hathaway. Der Regisseur drückt der Filmwelt Anfang der 1950er-Jahre seinen Stempel auf. Sein Thriller Niagara katapultiert Marilyn Monroe in Hollywoods Scheinwerferlicht. Mit Kennwort 777 (OT: Call Northside 777) dreht Hathaway wenige Jahre zuvor einen Film, der heute als wichtiger Vertreter des semidokumentarischen Spielfilms gilt.

Gegen Ende der 1940er-Jahre kommt dieses Genre in Mode: Filme, die sich bewusst vom Eskapismus rein fiktionaler Stoffe absetzen, indem sie auf wahre Begebenheiten basieren, reale Kriminalfälle aufgreifen und gesellschaftliche Missstände thematisieren.

Ein semidokumentarisches Anstrich als Merkmal

Viele Journalistenfilme beruhen auf authentischen Recherchen sowie echten Scoops. Die erzählerischen Mittel, derer sich Kennwort 777 bedient, finden bis heute immer wieder gerne Anwendung im Genre. Angefangen beim obligatorischen Disclaimer im Vorspann: „Based on Articles“ heißt es dort. Mehr braucht es nicht für die journalistische Glaubwürdigkeit.

Anschließend holt ein Voice-over zur Vorgeschichte aus. Die gesellschaftlichen Spannungen im Zuge der Großen Depression, die kriminellen Auswüchse der Prohibition und die besonderen Herausforderungen für die Verbrechensbekämpfung – nicht zuletzt wegen der Korruption in den Reihen der Polizei – bilden das Setting eines echten Kriminalfalls, der gleich in fiktionalisierter Form ausgerollt wird. Authentische Aufnahmen aus der Zeit verleihen dem Ganzen eine zusätzliche Erdung.

Krimineller Besuch: In einem illegalen Ausschnank kommt es zu einem Verbrechen, dessen Auslösung nicht so offensichtlich ist wie die Behörden nahelegen.
Krimineller Besuch: In einem illegalen Ausschnank kommt es zu einem Verbrechen, dessen Auslösung nicht so offensichtlich ist wie die Behörden nahelegen.

Ein Polizistenmord als Vorgeschichte

Hiernach steigt der Spielfilm ein: Wir sehen, wie der Streifenpolizist John W. Bundy in einem Speakeasy ermordet wird. Die vermeintliche Aufklärung lässt nicht lange auf sich warten: Frank Wiecek und ein Komplize werden verhaftet und zu jeweils 99 Jahren Haft verurteilt. Das Urteil stützt sich auf die Aussage der Zeugin und Ladeninhaberin Wanda Skutnik (Betty Garde). Dass wir es an dieser Stelle mit einer unzuverlässigen Erzählung zu tun haben, lässt sich mit dem Vorwissen aus dem Klappentext erahnen. Und auch die schattigen Gestalten in der Exposition sind verräterisch.

Dem damaligen Publikum dürfte der True Crime-Hintergrund des Films bei Erscheinen noch sehr präsent gewesen sein. Die späte wie unerwartete Auflösung liegt zum Kinostart nur wenige Jahre zurück. Ausgangspunkt ist der Mord an William D. Lundy am 9. Dezember 1932. Der 55-jährige Streifenpolizist geht bei einem Raubüberfall in einem Chicagoer Lebensmittelgeschäft dazwischen. Lundy gelingt es, einen der beiden Räuber niederzureißen, bevor er ihn der andere mit sechs Schüssen niederstreckt. Lundy stirbt. Er hinterlässt Frau und sieben Kinder.

Der echte Fall von Joseph Majczek 

Entsprechend hoch ist der öffentliche Druck, der auf den Fahndern lastet. Keine zwei Wochen später konzentrieren sie sich auf zwei Verdächtige. Sie haben es auf Joseph Majczek und Theodore Marcinkiewicz abgesehen. Die beiden polnischstämmigen US-Bürger passen scheinbar ins Profil, denn sie halten sich mit Gelegenheitsjobs gerade so über Wasser.

Majczek wird noch vor Heiligabend festgenommen, Marcinkiewicz ergibt sich im Januar 1933. Die Ladenbesitzerin Vera Walush identifiziert die beiden zweifelsfrei, wie es in den offiziellen Ermittlungsakten heißt. Die jungen Männer, gerade einmal 24 und 25 Jahre, werden des Mordes an William D. Lundy angeklagt. Noch im Jahr 1933 fällt der Richter das Urteil: Beide erhalten eine Haftstrafe von 99 Jahren.

Auslöser einer Recherche - im Film und im echten Leben: Eine Anzeige in der Chicago Times, aufgegeben von der Mutter des vermeintlichen Polizistenmörders.
Auslöser einer Recherche – im Film und im echten Leben: Eine Anzeige in der Chicago Times, aufgegeben von der Mutter des vermeintlichen Polizistenmörders.

Ungereimtheiten nach elf Jahren Haft

Im Gefängnis geraten Joseph Majczek und Theodore Marcinkiewicz in Vergessenheit. Bis am 10. Oktober 1944 eine Kleinanzeige in der Chicago Times erscheint. „5.000 Dollar Belohnung für die Mörder von Officer Lundy am 9. Dezember 1932“ werden darin ausgelobt. Der Lokalchef der Zeitung, Karin Walsh, weist den Polizeireporter James McGuire an, der Annonce auf den Grund zu gehen.

Genau wie im Film hat auch die echte Anzeige einen mütterlichen Ursprung. Die Urheberin, Mama Majczek, ist nach über einem Jahrzehnt von der Unschuld ihres Sohnes überzeugt. Schon am nächsten Tag besucht Journalist McGuire Joseph Majczek im Gefängnis – der beteuert, kein Polizistenmörder zu sein. Stattdessen sei eine wichtige Zeugenaussage, die Marcinkiewicz und ihn hätte entlasten können, vor Gericht ignoriert worden.

Die echten Recherchen der Chicago Times

McGuire, der später von seinem Kollegen John McPhaul investigativ unterstützt wird, geht dem nach. Ihm gelingt es, den fraglichen Zeugen ausfindig zu machen. Er hatte den Mord an Lundy beobachtet und war auch im Zuge der Ermittlungen zu einer Gegenüberstellung geladen worden. Dabei sah er auch Joseph Majczek, den er nicht wiedererkannte. Er glaubte nicht, dass es sich bei den Angeklagten um die Mörder handelte – so bezeugte er es damals auch vor Gericht.  

Die weiteren Recherchen bringen stattdessen die Aussagen der Kronzeugin ins Wanken. Es kommt heraus, dass auch Walush nicht in der Lage war, Majczek zweifelsfrei zu identifizieren. Dass sie sich dennoch festlegte, hatte ein Motiv. Vera Walush betrieb zur Tatzeit einen illegalen Ausschank in ihrem Laden. Um einer möglichen Strafverfolgung zu entgehen, soll sie sich zu einer Falschaussage hinreißen lassen haben.

Anwaltschaftlicher Journalismus im Wortsinn

Dabei wurde Marcinkiewicz wohl zum Verhängnis, dass er von der Existenz des Speakeasys wusste – im Verfahren sagte unter anderem eine Zeugin aus, Marcinkiewicz habe einmal laut mit dem Gedanken gespielt, Walushs illegale Kneipe auszurauben. Ein Umstand, der nicht von der Hand zu weisen ist: Marcinkiewicz befand sich Anfang der 1930er-Jahre in finanziellen Nöten. Eine gewisse kriminelle Energie traut man ihm auch elf Jahre später noch zu.

Das ist auch einer der Gründe, weshalb sich die weiteren Bemühungen zunächst auf den Familienvater Joseph Majczek konzentrieren. Doch die Enthüllungen bewegen die Staatsanwaltschaft nicht dazu, das Verfahren wiederaufzunehmen. Also geht die Chicago Times einen ungewöhnlichen Schritt: Sie engagiert den renommierten Rechtsanwalt Walker Butler, um eine Begnadigung zu erwirken. 

Späte Entschädigung für die Inhaftierten

Butler kann auf Grundlage der Times-Recherchen weitere Verfahrensfehler nachweisen. Mit Erfolg: Am 15. August 1945 kommt der inzwischen 36-jährige Majczek  frei. Theodore Marcinkiewicz bleibt noch weitere fünf Jahre in Haft, bis auch seine Verurteilung juristisch nicht mehr zu halten ist.

Für die Lebenszeit, die sie unrechtmäßig im Gefängnis verbrachten, werden die Männer entschädigt – Majczek mit 24.000, Marcinkiewicz mit 35.000 US-Dollar (was 2025 etwa 320.000 bzw. 465.000 Dollar entspricht). Die wahren Mörder von William D. Lundy bleiben bis zum heutigen Tage unbekannt.

Wenn Medien juristisch aktiv werden …

Viele dieser Wendungen greift Kennwort 777 auf, einschließlich des für deutsche Medienverhältnisse außergewöhnlich parteinehmenden Vorgehens einer Zeitung – denn die Chicago Times betreibt hier einen im Wortsinn anwaltschaftlichen Journalismus. Sie recherchiert nicht nur, sondern wird zur treibenden Kraft eines Wiederaufnahmeverfahrens.

Dass Medien juristisch aktiv werden, ist keineswegs unüblich – allerdings meist in eigener Sache, etwa um Akteneinsicht zu erwirken oder Veröffentlichungsverbote zu kippen. Für Dritte vor Gericht zu ziehen, ist in Deutschland hingegen kaum mit dem Prinzip journalistischer Distanz vereinbar.

… und deutsche Grenzfälle

Das heißt nicht, dass deutsche Berichterstattung stets neutral bleibt. Gerade bei offensichtlichen Ungerechtigkeiten nehmen Journalist:innen ihre Watchdog-Funktion ernst – mit ihrem beharrlichen Finger in der Wunde können sie durchaus Hinweise auf rechtliche Hilfe geben.

So sind auch hierzulande (Grenz-)Fälle bekannt, in denen Medien anwaltschaftliche Positionen beziehen, ohne formell Partei in einem Verfahren zu sein. Zu den prominentesten Beispielen der jüngeren Vergangenheit zählt der Justizskandal um Gustl Mollath: Die Berichterstattung des SWR und der Süddeutschen Zeitung 2011/2012 wurde zum wichtigen Katalysator für die juristische Wiederaufnahme.

Der Fall Majczek ist eine seltene Ausnahme

Ein weiteres bemerkenswertes Beispiel sind die Recherchen des Journalisten Ulrich Chaussy, die in ihrer filmischen Aufarbeitung dazu beitrugen, dass die Ermittlungsakten zum Anschlag auf das Münchener Oktoberfest nach über 40 Jahren erneut geöffnet wurden – mehr dazu in meiner Review zu Der blinde Fleck.

In den USA, wo anwaltschaftlicher Journalismus als Strömung stärker verankert ist*, sind die Grenzen zwischen Journalismus und Aktivismus noch durchlässiger. Gleichwohl bleibt die Rolle der Chicago Times im Fall Majczek auch dort eine seltene Ausnahme.

* Zur Entwicklung und den Ausprägungen des anwaltschaftlichen Journalismus kann ich den sehr erhellenden Abstract in Klaus-Dieter Altmeppens „Journalistikon“ empfehlen 

Die journalistische Darstellung in Kennwort 777

Insofern ist das, was Kennwort 777 gerade in seinem Schlussdrittel zeigt, journalistisch kaum repräsentativ. Das gilt auch für die wiederkehrenden Treffen, bei denen die Blattmacher mit dem Bürgermeister von Chicago, dem Polizeichef und dem Gouverneur über den Fortgang ihrer Recherchen verhandeln.

Zwar ist es nicht unrealistisch, dass politische Akteure versuchen, unliebsame Berichterstattung zu beeinflussen. Doch die Funktion dieser Gesprächsrunden ist primär erzählerisch: Am Verhandlungstisch lassen sich die unterschiedlichen Interessen zu packenden Wortgefechten verdichten.

Folgt dem Kennwort 777: James Stewart spielt den Journalisten Mc Neal - hier in einer Szene mit Mama Tillie Wiecek, Mutter des inhaftierten Frank Wiecek.
Folgt dem Kennwort 777: James Stewart spielt den Journalisten Mc Neal – hier in einer Szene mit Mama Tillie Wiecek, Mutter des inhaftierten Frank Wiecek.

In der Tradition der alten Zeitungsfilme

Dass diese Treffen zudem in den Räumen der Times stattfinden, passt zum Tenor des Films, der die Kraft des Journalismus beschwört – sie ist es, die die Mächtigen an den Tisch ruft. Zu diesem Bild gehört auch, dass die Mächtigen potenziell etwas zu verbergen haben. Kennwort 777 steht ganz in der Tradition jener noir-geprägten Zeitungsfilme der 1930er-Jahre, die das politische Misstrauen der Wirtschaftskrisenjahre aufgriffen.  

Daneben erlaubt sich der Film erzählerische Freiheiten, um zwei technologische Errungenschaften prominent in Szene zu setzen: Der Lügendetektor und eine Fotovergrößerung dienen als technische Waffen im Kampf um Wieceks Freiheit.

Technische Waffen im Kampf um die Wahrheit

Wobei: Der Polygraphentest, dem sich der Verurteilte freiwillig unterzieht, hat keine unmittelbaren juristischen Folgen. Er markiert jedoch einen moralischen Wendepunkt. Nachdem Wiecek den Test erfolgreich besteht, beginnt Reporter McNeal ernsthaft an seiner Schuld zu zweifeln.

Wie einer Schlagzeile der Chicago Times vom 4. Dezember 1944 zu entnehmen ist, scheint sich auch Joseph Majczek, Vorlage für die Filmfigur Frank Wiecek, tatsächlich einem Lügendetektortest unterzogen zu haben, wohl wissend, dass der Polygraph damals in den USA noch kein zulässiges Rechtsmittel war.

Der Test soll von Leonarde Keeler durchgeführt worden sein, einem der maßgeblichen Erfinder des Geräts – wobei die Entwicklung des Lügendetektors, wie so oft in der Technikgeschichte, mehrere Väter kennt (in diesem Fall sind wirklich nur „Väter“ bekannt). Keeler selbst tritt übrigens in dem Film auf und führt dort den Test durch – ganz im Stil eines Erklärfilms, was den semidokumentarischen Anspruch von Kennwort 777 zusätzlich unterstreicht.

Lügendetektor und Bildanalyse im Fokus

Zur technischen Smoking Gun gerät schließlich ein vergrößertes Zeitungsfoto, das die Belastungsaussage der zentralen Zeugin untergräbt: Darauf ist ein Datum zu erkennen, das im Widerspruch zum aufgenommenen Bericht steht. Die Technik an sich ist realistisch, ihre Funktion als bildanalytischer Wendepunkt hingegen filmische Fiktion. Der Reiz, einen weiteren technischen Fortschritt filmisch zu inszenieren (das Bild wird per Ferntelegraphie übermittelt), überwog in diesem Fall offensichtlich.  

An diesen Stellen überdehnt Kennwort 777 sein semidokumentarisches Label und setzt vielmehr zu einer Leistungsschau kriminaltechnischer Verfahren an, die suggeriert, dass sich menschliche Fehlurteile, die im Justizsystem besonders folgenschwer wiegen, mittels Technik überwinden ließen. Besonders in der Lügendetektor-Episode schwingt ein werblicher Unterton mit. Nicht zuletzt, weil ihr Erfinder wie in einem Teleshop-Clip persönlich für seine Errungenschaften werben darf.

Ungeeignete Testimonials eines Technikglaubens?

Die Ironie dieses Technikglaubens ist, dass der Lügendetektor inzwischen selbst für seine Fehlbarkeit berüchtigt ist. Befürwörter:innen werden zwar einwenden, dass es die Menschen sind, die bei der Auswertung der Ausschläge irren – doch genau das macht seinen Einsatz so anfällig. Zwar erleben die USA in den Jahrzehnten nach Erscheinen des Films einen regelrechten polygraphischen Hype, und der Lügendetektor hat noch heute seine Anhänger in den Geheimdiensten. Doch inzwischen lehnt ihn rund die Hälfte aller Bundesstaaten als Beweismittel vor Gericht ab.

Die konkreten technischen Bezüge mögen vielleicht aus der Zeit gefallen sein, und vermeintliches Werbekino hin oder her: Letztlich stehen Lügendetektor und Fotovergrößerung auf der übergeordneten Ebene für etwas anderes – für die Bereitschaft, vorgefertigte Annahmen zu hinterfragen. Journalist McNeal muss erst lernen, „out of the box“ zu denken, obwohl man genau diese Fähigkeit von seinem Berufsstand eigentlich erwarten dürfte.

Von zynischen Zeitungsmann zum Wahrheitsverfechter

Tatsächlich zeigt sich der Reporter betont skeptisch, solange diese Skepsis mit seinen eigenen Überzeugungen übereinstimmt. „Schenken Sie Ihrem Sohn lieber Zigaretten und Schokolade, wenn Sie ihm etwas Gutes tun wollen“, kanzelt er Wieceks Mutter ab, während die sich krumm und buckelig schuftet.  McNeal widerstrebt der Gedanke, seine Recherche könnte öffentliche Sympathie für jemanden wecken, der einen Polizisten kaltblütig ermordet haben soll.

Eine Haltung, die durchaus nachvollziehbar ist, ja sogar in Teilen von einem journalistischen Verantwortungsbewusstsein zeugt. Würde er sich nicht ständig zu abfälligen Bemerkungen hinreißen lassen: „Der elektrische Stuhl wäre besser gewesen“, ärgert er sich, als ihm dämmert, dass er aus der Story eine endlose Fortsetzungsgeschichte machen soll.

Wer beobachtet hier wen? Kennwort 777 ist ein Film über die Watchdog-Funktion des Journalismus. Passend dazu führt die Handlung in ein Panoptikum, dem Kontrollhaus schlechthin.
Wer beobachtet hier wen? Kennwort 777 ist ein Film über die Watchdog-Funktion des Journalismus. Passend dazu führt die Handlung in ein Panoptikum, dem Kontrollhaus schlechthin.

Der Regelkreis des Sensationalismus

Denn die Resonanz ist groß, Chefredakteur Kelly für seine Verhältnisse begeistert. Selbst McNeals Frau streicht ihrem Gatten anerkennend über den Arm: „Das ist eine tolle Geschichte von dir. Sogar mit Herz!“ Nur Stewart, der es offensichtlich vorzieht, in ein Vakuum hinein zu publizieren, moppert weiterhin: „Ich brauche nur etwas Sentimentales schreiben und alle plärren mir die Ohren voll.“

Diese Geringschätzung des eigenen Publikums bildet die Vorhut für die Wandlung, die McNeal noch durchleben wird – vom zynischen Zeitungsmann hin zum leidenschaftlichen Wahrheitsverfechter. Zugleich lässt sich in ihr auch eine Kritik erkennen, und zwar am Regelkreis des Sensationalismus, der von Schnellschüssen und kurzen Aufmerksamkeitspannen lebt.

Fluch und Segen der Fortsetzungsgeschichte

Einerseits ist es zwar löblich, dass die Chicago Times mit weiteren Fortsetzungsgeschichten am Ball bleibt. Andererseits serviert sie nur bloße Snippets, kleine Häppchen, die den Appetit der Öffentlichkeit bis zur nächsten Ausgabe anregen sollen. Unentwegt sucht McNeal nach einem neuen Aufhänger, um die Geschichte „für die breite Masse auszuwalzen“. Mal kommt Hinz, mal Kunz zu Wort (Beobachtung am Rande: Kennwort 777 stammt aus einer Film-Ära, in der alle nur allzu bereitwillig mit Pressevertreter:innen sprechen, seien die Fragen noch so bohrend).

Dabei bräuchte die Geschichte, sollte sie wirklich etwas bewirken, eines: eine fundierte Langzeitrecherche.  P.J. McNeal verrichtet boulevardesken Dienst nach Vorschrift, bis ihn ausgerechnet der Protagonist seiner reißerischen Artikelserie auf handwerkliche Mängel hinweist. Auch eine moralische Predigt muss er sich gefallen lassen: Warum es unbedingt nötig sei, Ehefrau und Kind nach über zehn Jahren noch einmal in die Öffentlichkeit zu zerren, will Wiecek wissen. Seine Meinung hat er sich bereits gemacht: „Sie wollen doch nur verdienen!“, spricht er McNeal mögliche höhere journalistische Motive ab.

Selbstkritik am eigenen Berufsstand

Dem Reporter wird der Spiegel vorgehalten. Fortan beginnt er tatsächlich zu recherchieren. Seine Nachforschungen führen ihn ebenso in die Archive wie in die Spelunken des Hafenviertels. Die Botschaft: Für die Wahrheit ist sich dieser hemdsärmelige Journalist nichts (mehr) zu schade. Seine Wandlung lässt sich als Selbstkritik am eigenen Berufsstand lesen: Auf dem Weg zur journalistischen Erkenntnis gilt es, nicht nur Widerstände zu überwinden, sondern auch gängige Routinen und scheinbar allgemeingültige Urteile zu hinterfragen.  

Gänzlich zum weißen Ritter schwingt sich der Journalismus damit allerdings nicht auf. Der Beruf verweilt – ganz im Sinne des Film Noir – im Halbschatten. Dass eine Zeitung etwa eine Kronzeugin öffentlich beleidigt, um diese zu einem entlarvenden Fehltritt zu provozieren, ist schon ein ziemlich starkes Stück (wenngleich ein Freddy Lounds in Roter Drache mit seinem hässlichen Schimpftiraden noch einen draufsetzt).

Die ambivalente Rolle der Medien

Einerseits feiert der Film den Journalismus als Gegengewicht zur Justiz. Dabei ist er fortschrittlicher aufgestellt als die „verkrusteten“ Behörden, die sich Lügendetektor und Bildanalyse erst einmal erklären lassen müssen – obwohl diese kriminaltechnischen Methoden zum Zeitpunkt der Filmhandlung, wenn auch in rudimentärer Form, geläufig waren. So kam eine frühere Version des Polygraphen bereits 1921 bei polizeilichen Ermittlungen in den USA zum Einsatz. Andererseits lässt Kennwort 777 keinen Zweifel daran, dass dieselbe Presse, wenn sie nicht genau hinsieht und lieber der Logik der Marktwirtschaft folgt, in der Lage ist, eine Vorverurteilung zu zementieren.  

An diesem grundlegenden medialen Zwiespalt hat sich seit 1948 kaum etwas geändert. Zwar wirken sowohl die zur Schau gestellte Technik als auch der formale, semidokumentarische Ansatz wie kalter Kaffee. Und auch als wortreicher Krimi lässt auch Kennwort 777 den Puls nicht unbedingt in die Höhe schnellen. Als nostalgisches Loblieb auf einen idealistischen Journalismus funktioniert der Film aber dennoch ganz ordentlich.

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